Rabenzauber
unangenehm wird, eine Frau, die stark genug ist, einen Adler zu lieben.«
Ein Lächeln breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus. »Und sie ist hübsch«, sagte er, und Seraph lächelte zurück.
»Sehr«, stimmte sie zu.
Jes stand auf und ging auf den Tempel zu, aber dann blieb er wieder stehen und drehte sich noch einmal zu seiner Mutter um. Seraph stand auf - langsam, weil die Gänsehaut in ihrem Nacken ihr sagte, dass es jetzt der Hüter war, der sie aus den Augen ihres Sohnes anstarrte.
»Warum ist sie immer noch hier?«, fragte er. »Wenn sie gehen wollte, um uns zu retten, warum tut sie es nicht einfach? Ist ihr das Rätsel der Edelsteine wichtiger als Jes?«
»Die Edelsteine sind mehr als nur ein Rätsel«, antwortete Seraph. »Hüter, die Reisenden sterben. Wir können es uns nicht leisten, so viele Weisungen zu verlieren, wenn die Weisungen das Einzige sein könnten, das uns rettet. Ich weiß
nicht, warum sie mir nicht alles gesagt hat, was sie weiß, aber ich denke, sie hat sich das Recht verdient, von mir zu erwarten, dass ich mich auf sie verlasse.«
Der Hüter nickte, und Seraph sah in Jes’ Augen, wie er sich zurückzog. »Es ist in Ordnung, wenn Hennea Geheimnisse hat«, stellte Jes mit seiner üblichen vergnügten Stimme fest. »Raben sind glücklicher, wenn sie Geheimnisse haben. Papa sagt das immer.«
Seraph zog die Brauen hoch und ging ebenfalls auf den Tempel zu. »Das sagt er, wie?«
Jes lachte.
5
D er makellose Vorraum, den Seraph gekannt hatte, existierte nicht mehr. Der Tempelboden war bedeckt mit Dreck, der durch die offene Tür hereingeweht worden war. Die Vorhänge, an die Seraph sich erinnerte, waren verschwunden.
Erst als sie und Jes den großen Kuppelraum mit den Vogelfresken betraten, die im Kreis an einem falschen Himmel flogen, stimmten Erinnerung und Wirklichkeit für sie wieder überein, bis hin zu den magischen Lichtern, die die Wände beleuchteten. Sie fragte sich, wie lange die Lichter wohl brennen würden, wenn kein Zauberer mehr da war, um sie zu nähren.
Jes blieb stehen und betrachtete den Adler, der den Himmel beherrschte. »Er glaubte, der Adler sei der Pirschgänger, oder?«
»Ja«, sagte Seraph und ging rasch weiter auf eine Tür auf der anderen Seite des Raums zu. »Er wusste überhaupt nichts über den Pirschgänger, nur, dass er gefangen saß. Und über den Adler wusste er noch weniger. Du weißt, dass die Reisenden nicht über den Adler reden, weil deine Weisung ohnehin schon genug zu ertragen hat, und die Clans versuchen, die Hüter zu schützen, so gut sie können. Volis hörte geflüsterte Worte über den Pirschgänger und den Adler, setzte sie mit einer Handvoll Stroh zusammen, und das Ergebnis war vollkommen unsinnig.«
Dank Jes fand sie die Bibliothek und die anderen schnell, denn er folgte ihren Stimmen durch den Irrgarten von schmalen Fluren, die in den Fels des Berges gegraben worden waren.
Die Bibliothek war ein großer Raum, aber nur karg möbliert, als hätte Volis gerade erst begonnen, sie einzurichten. An einer Wand gab es Regale, die halb mit Büchern gefüllt waren, und auf der anderen Seite des Raums eine Bank, eine Truhe und mehrere Schränke. Lehr und Rinnie standen vor einem Regal und blätterten Bücher durch, und Hennea tat das Gleiche vor einem anderen.
Hennea blickte auf, als sie hereinkamen. Sie warf einen Blick zu Jes, der vergnügt vor sich hin summte, und sah Seraph dann fragend an.
Seraph konnte sich ein selbstzufriedenes Lächeln nicht verkneifen. »Raben mögen Geheimnisse.«
»Sagt Papa«, stimmte Jes fröhlich zu.
Er ging zu Rinnie, die auf dem Boden saß und ein Buch zu einer bunten Zeichnung eines Reisendenlagers geöffnet hatte, hockte sich hinter sie und blickte ihr über die Schulter.
»Das da ist ein Karis «, sagte er und zeigte auf ein Bild eines der kleinen Wagen. »Die Lerche Brewydd hatte einen, in dem sie fuhr, weil sie sehr alt war.« Er sah zu Hennea auf. »Sehr alt«, wiederholte er und zwinkerte.
Hennea versteifte sich sichtlich. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um, packte Seraph am Arm und zog sie aus dem Zimmer in den Flur hinaus.
»Was hast du ihm gesagt?«, wollte sie wissen. Ihre übliche Ruhe war von ihr abgefallen, als hätte sie nie existiert.
Im Gegensatz dazu kam Seraph sich recht gelassen vor - ein ungewöhnlicher Zustand für sie. Es gefiel ihr.
»Er kann ziemlich gut hören«, erinnerte sie Hennea. »Obwohl er so getan hat, als hätte er unser Gespräch nicht belauscht, weil
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