Rabenzauber
Bereich rechts oben, wo er das Pergament hatte abkratzen und neu zeichnen müssen.
»Wie alt ist dieser Stadtplan, Mutter?«, hauchte Rinnie. »Stammt er wirklich aus Colossae?«
»Er ist alt genug.« Seraphs Hände fühlten sich nach der Deutung kalt und schwer an. »Nachdem der junge Mann, der ihn gezeichnet hatte, ihn weitergegeben hatte, kam es zu einer ganzen Reihe von Besitzern. Ihnen gehörte der Stadtplan immer nur für kurze Zeit, und das ist so lange her und sie interessierten sich so wenig dafür, dass ich nicht mehr als einen flüchtigen Eindruck von vielen Menschen erhalte.«
Sie blickte zu Hennea auf und lächelte ihr zu. »Es sind Gefühle, die Spuren an Gegenständen hinterlassen, und ein Stadtplan ruft kaum große Leidenschaften hervor. Ich weiß, wie alt er ist, aber ich werde lange nicht mehr als das sagen können. Er war versteckt oder verloren.«
Seraph berührte die Tasche, in der sich die Schriftrolle befunden hatte, leicht mit der Fingerspitze und einer Spur Magie. »Und zwar in dieser Tasche, die beinahe ebenso alt ist wie der Plan selbst.«
Rinnie betrachtete ihren Fund respektvoll. »Sie sieht nicht so alt aus.«
»Der Konservierungsbann«, murmelte Hennea. »Dinge können mit einem guten Konservierungsbann lange halten, und die Zauberer von Colossae waren sehr gut.«
»Sie lagen im Verborgenen, die Karten und die Tasche, für Hunderte von Jahren. Dann hatte eine Frau, eine Solsenti -Zauberin, sie in der Hand und wunderte sich darüber - ich glaube, sie hatte gehofft, einen Schatz zu finden. Als sie sie zum ersten Mal in der Hand hielt, war sie noch jung, aber ihre letzte Berührung erfolgte mit einer trockenen, alten Hand. Sie hielt Tasche und Karten lange versteckt, und sie konnte nie herausfinden, was sie da besaß, obwohl sie wusste, dass die Sachen alt waren. Vor etwa zwei Jahrhunderten gerieten sie in den Besitz eines anderen Zauberers.«
Sie schluckte und blickte zu den anderen Schriftrollen, die auf dem Boden lagen, berührte sie, suchte nach weiteren Antworten. Als sie alle in Händen gehabt hatte, sagte sie: »Er war begabt dafür, Sprachen zu erlernen. Ich sah ihn vor den Toren von Colossae stehen, wo er etwas suchte, was er sich sehr intensiv wünschte - Macht? Nicht ganz, aber nahe dran.« Wieder berührte sie die erste Schriftrolle. »Als er den Stadtplan das nächste Mal entrollte, war er schon von der Macht des Pirschgängers berührt worden - er war der Schatten. Er versteckte die Landkarten an einem geheimen Ort; er brauchte sie nicht mehr. Volis fand sie und nahm sie an sich, aber er konnte nichts damit anfangen.«
»Kannst du ihn sehen?«, flüsterte Hennea eindringlich. »Bei der Lerche, ich hoffe, du kannst sehen, wer er ist!«
Seraph schüttelte frustriert den Kopf. »Nein. Ich habe wirre Eindrücke und kann kurz das Gesicht eines jungen Mannes sehen, aber nicht gut genug, um ihn zu identifizieren. Er hat einfach nicht genug von sich zurückgelassen. Ich kann euch
nur sagen, dass er schon vor beinahe zweihundert Jahren zum Kind des Pirschgängers wurde.«
Hennea ließ ihren Aufruhr wieder hinter der üblichen kühlen Fassade verschwinden, aber sie war blasser als sonst. »Wir hatten seit dem namenlosen König keinen mehr, der so alt wurde.«
»Es hat mehr als einen gegeben?«, fragte Lehr.
Seraph nickte. »Ich weiß von dreien … vier, wenn man den neuesten mit einschließt. Der namenlose König war der zweite. Die erste verließ Colossae mit den Zauberern, die zu den Reisenden wurden.«
»Dieser hier ist der sechste«, sagte Hennea. »Jedenfalls der sechste, von dem ich weiß. Nach dem namenlosen König wussten wir, nach welchen Anzeichen wir Ausschau halten sollten. Tod folgt dem Schatten auf dem Fuß. Ich verstehe nicht, wie sich der neueste so lange vor uns verbergen konnte. Bist du sicher, was die Zeit angeht, Seraph?«
»Ich irre mich vielleicht um zehn oder fünfzehn Jahre, aber nicht mehr.« Sie teilte Henneas Befürchtungen. Der Schatten gewann wie jene, die er besudelte, im Lauf der Zeit mehr Macht. »Es gab vor ein paar Jahrzehnten eine Seuche - sie tötete zum Beispiel Isoldas Clan bis auf meinen Bruder und mich. Es gab andere Clans, die ebenfalls viele Mitglieder verloren.« Sie zögerte. »Um die gleiche Zeit begann der Pfad, Reisende wegen ihrer Weisungen umzubringen.«
»Das ist kein Zufall«, stimmte Hennea zu. »Vielleicht sind wir in diesen letzten Generationen ja so wenige geworden, dass keinem mehr das Muster des Todes
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