Rabenzauber
Universitätstor.«
Seraph starrte den für sie auf dem Kopf stehenden Stadtplan an. Sie versuchte, in der dargestellten Stadt einen der
Orte wiederzuerkennen, die sie schon einmal gesehen hatte. »Universität? Es gibt im Kaiserreich nur drei Universitäten, aber dieser Plan passt zu keiner der zugehörigen Städte.«
Hennea drehte die Landkarte herum und deutete auf die großen Buchstaben unten auf der Rolle. »Kannst du das lesen?«
Seraph runzelte die Stirn. Die Buchstaben wirkten sehr vertraut, dachte sie. Es war der Schreibstil, der sie verwirrte. Sie fuhr mit den Fingern über die dickeren Linien. »Der erste Buchstabe ist ein C, und der zweite …« Dann wurde ihr das Muster klar, und sie verstummte.
»Was ist denn?«, fragte Lehr.
Seraph berührte den Stadtplan noch einmal mit den Fingern. »Colossae«, sagte sie ehrfürchtig. »Als dieser Stadtplan gezeichnet wurde, war es eine lebendige Stadt - noch vor der Entstehung des Kaiserreichs, vor der Herrschaft des Schattens, und bevor die Füße der ersten Reisenden eine Straße berührten, wurde dieser Stadtplan gezeichnet.«
»Er könnte eine Kopie sein«, wandte Lehr leise ein.
»Mag sein.« Hennea streifte den Stadtplan wieder mit der Hand. »Oder er ist eine Fälschung - woher sollen wir das wissen?«
»Ich kann es vielleicht herausfinden«, sagte Seraph nachdenklich.
»Wie denn?«, fragte Hennea.
»Ich werde seine Vergangenheit lesen.« Sie griff nach unten, um den Stadtplan zu berühren, aber Hennea riss ihn weg.
»Wenn er wirklich so alt ist, ist das zu gefährlich.«
»Wie meinst du das, gefährlich?«, fragte Lehr.
Seraph schnaubte gereizt. »Es ist eine Landkarte, Hennea. Ich kann froh sein, wenn jemand sie lange genug festgehalten hat, um auch nur den geringsten Eindruck an ihr zu hinterlassen. Kannst du die Vergangenheit von Gegenständen sehen?«
»Nein.«
»Also dann.« Seraph griff wieder nach dem Stadtplan und legte ihn vor sich auf den Boden. »Falls ich kreischend umfallen sollte, kannst du ihn mir gerne wieder abnehmen.«
»Mutter? Bist du sicher, dass du das tun solltest?«
Sie warf Lehr einen Seitenblick zu. »Bitte sei so freundlich, mir zuzugestehen, dass ich weiß, wo meine Grenzen liegen. Solange diese Rolle kein Gegenstand der Anbetung war oder jemand sie benutzte, um einen anderen damit umzubringen, wird mir nichts zustoßen.«
Bevor noch jemand widersprechen konnte, entsandte Seraph Ranken von Magie zu dem Pergament.
»Alles in Ordnung«, sagte sie, als die Vergangenheit des Stadtplans in geflüsterten Fetzen zu ihr kam und nicht in einer überwältigenden Welle.
Abgesehen von ein paar verschwommenen Bildern erschien die neueste Geschichte, die dem Gegenstand anhaftete, für gewöhnlich zuerst, obwohl das nicht immer so war. Seraph spürte Henneas Hände und die intensive Ruhe, die ihr auf jeden Fall gesagt hätte, dass ein Rabe den Stadtplan berührt hatte, selbst wenn sie Hennea nicht gekannt hätte.
»Volis hatte ihn in der Hand.« Sie konnte den kalten Schweiß seiner Handflächen spüren, und seine Angst, dass jemand ihn sehen würde. »Er hat ihn gestohlen.« Dann kam ein neues Bild, das ihr mehr sagte als der Diebstahl, und sie wusste, dass er tatsächlich nicht imstande gewesen war, die Landkarten und Pläne zu entziffern. »Er glaubte, etwas, was so gut versteckt war, müsse wichtig sein, aber er konnte an einem Haufen alter Landkarten nichts Nützliches erkennen.«
Der Stadtplan war lange Zeit nicht betrachtet worden. »Er war versteckt, damit er geheim blieb. Ein Zauberer hatte ihn in der Hand, ein Solsenti -Zauberer - aber er verstand, was er vor sich hatte, denn er beherrschte viele Sprachen. Eine Begabung, die ihm bei seiner Suche nach Macht sehr geholfen hat, bei seiner
Suche nach …« Sie hörte auf zu sprechen, denn sie wollte die anderen nicht verwirren, als ihre Deutung sie von der jüngeren Vergangenheit in die länger zurückliegende und dann wieder beinahe in die Gegenwart führte. Die Jahre waren so unklar; manchmal fiel es ihr schwer, einen Überblick zu behalten.
»Mutter?«
Seraph blinzelte und sah Lehrs vertrautes Gesicht.
»Alles in Ordnung?«
Sie nickte. »Dieser Stadtplan wurde von einem Lehrling hergestellt.« Das Wort schien nicht so recht zu passen, aber es traf den Sachverhalt zumindest ungefähr. »Oder vielleicht von einem Schüler. Er war enttäuscht, weil sein Lehrer ihn streng kritisierte und ihn einen Teil davon noch einmal anfertigen ließ.« Sie berührte einen
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