Rabenzauber
Sonne unterging, sammelten sie sich um das Feuer. Tier stimmte die Laute, die er aus Taela mitgebracht hatte.
»Bitte spiel ›Rückzug im Grenzland‹, Papa«, bat Rinnie.
Und so begann der Gesang. Sie waren mitten in der zweiten Strophe, als Seraph mit ihrem leisen Alt einfiel. Tier wusste, dass sie nicht gern in der Öffentlichkeit sang, sondern nur, wenn sie unter sich waren. Dass sie jetzt sang, zeigte, wie sehr sie Phoran und die Jungs mochte.
Die leisen, klagenden Töne des »Rückzugs im Grenzland« gingen in die lebhaften von »Die erste Jagd des großen Hunds« über. Er mochte dieses Lied, weil er einen ganzen Monat damit zugebracht hatte, sich von seinem Großvater beibringen zu lassen, wie man die schnellen Läufe spielte. Es war das letzte Lied, das der alte Mann seinen Enkel gelehrt hatte, bevor Tier in den Krieg gezogen war.
Lehr holte seine Blechflöte heraus und spielte eine zweite Stimme, während Rinnie mit zwei Stöckchen den Rhythmus anschlug. Das Tempo war zu viel für die jungen Männer, die das Lied nicht kannten, aber Toarsen hielt mit bis zur letzten Strophe, die doppelt so schnell gesungen wurde wie die anderen.
Als Nächstes wählte Tier eine bekannte Ballade, bei der alle mitsingen konnten. In der zweiten Strophe gab es ein Duett, das Jes und Lehr übernahmen. Ihre Stimmen hatten beinahe dasselbe Timbre, und Tier lauschte immer gern der ungewöhnlichen Form, die diese Ähnlichkeit der Musik verlieh.
Beim dritten Kehrreim versagten seine Finger, und er verpasste einen Ton.
Er spielte weiter, als wäre alles in Ordnung, und niemand schien etwas zu bemerken. Immerhin hatte er nicht falsch gespielt. Seine Finger hatten nur etwas zu lange gezögert.
Er hatte diese Ballade schon Hunderte von Malen vorgetragen und nie einen Ton ausgelassen - dennoch, so etwas sollte kein Anlass zur Sorge sein. Das sagte er sich jedenfalls, als er die letzte Strophe beendete und wieder zum Kehrreim überging, aber er konnte nicht vergessen, dass er in diesem winzigen Moment, als seine Finger sich nicht bewegen wollten, keine Ahnung gehabt hatte, wer er war oder was er tat.
Er beendete das Lied mit großer Geste und einem Grinsen, und dann schickte er alle ins Bett.
»Es wird früh hell werden, und wir warten nicht auf die Sonne«, sagte er.
Er lächelte Seraph an und neckte sie wegen etwas, das er einen Moment später wieder vergaß. Er verbarg seine Angst hinter einem Lächeln und einem Scherzwort, wie er es in den Jahren als Soldat gelernt hatte. Aber das hier war ein Feind, von dem er nicht wusste, wie er ihn bekämpfen sollte.
Als Seraph sich neben ihm zusammenrollte, zog er sie zu fest an sich. Sie küsste ihn, bewegte sich ein wenig, damit er seinen Griff lockerte, tätschelte seine Hand und schlief ein. Er drückte seine Frau an sich und hoffte, dass ihre Körperwärme die Knoten in seinem Bauch lösen würde.
Er hatte sich solche Sorgen gemacht, sie zu verlieren, dass er keinen Augenblick an die Gefahr gedacht hatte, sich selbst schon vorher verlieren zu können.
Jes stand auf, kam zu Tier und hockte sich neben seinen Kopf. »Was ist los, Papa?« Seine Stimme war so leise wie die Nachtluft.
»Ich bin in Ordnung«, erwiderte Tier im Flüsterton. »Leg dich wieder hin und schlaf.«
Jes schüttelte den Kopf. »Du glaubst nicht wirklich, dass es dir gut geht. Ich kann es spüren.«
Tier wünschte sich, er hätte es mit dem Hüter zu tun, denn Jes war der Starrsinnigere der beiden. Er würde nicht ohne
eine Erklärung für das, was er von Tiers Ängsten spürte, davongehen.
»Als wir heute Abend sangen, spürte ich die Auswirkungen dessen, was der Pfad meiner Weisung angetan hat«, sagte er schließlich. Er hoffte, Seraph damit nicht zu wecken - er wollte nicht, dass sie sich noch mehr Sorgen machte. »Es dauerte nicht lange, und es tat nicht weh. Aber es hat mir Angst gemacht.«
Jes nickte. »Mach dir nicht zu viele Gedanken. Wir werden nicht zulassen, dass dir etwas zustößt. Nicht, solange wir es verhindern können.«
Tier lächelte und fühlte sich absurderweise besser, weil er mit Jes über sein Problem gesprochen hatte. »Das weiß ich. Und jetzt geh wieder schlafen.«
Zwei Tage später war Tier gerade dabei, die Geschichte eines Jungen zu erzählen, der ein Phönixei gefunden hatte, als es wieder passierte. Eben ritten sie noch ruhig dahin und Kissel lachte, und im nächsten Augenblick zügelte Kissel das Pferd und packte Tiers Hand.
»Was ist denn?«, fragte der junge Mann
Weitere Kostenlose Bücher