Rabenzauber
Tieragansweib«, erwiderte sie knapp, blieb aber stehen. Er lenkte sie von ihren Schuldgefühlen ab, und im Augenblick war sie damit zufrieden, wenn er das weiterhin tat.
Sie hatte natürlich gewusst, dass es einen neuen Priester in der Stadt gab. Selbst wenn sie es vergessen hätte, hätte der neue Tempel ganz oben im Dorf sie wieder daran erinnert. Der Priester war im vergangenen Herbst mit dem neuen Sept aus Taela gekommen und hiergeblieben, als der Sept wieder zu seinen Pflichten in der Hauptstadt des Kaiserreichs zurückgekehrt war. Aber Seraph hatte nicht sonderlich auf die Neuigkeiten geachtet - sie war immer noch zu sehr Reisende, um in den Gotteshäusern zu beten.
Volis grinste sie an. »Ich hatte also recht! Es tut mir leid, wenn ich Euch so überfalle, aber die Reisenden sind eine Art Steckenpferd von mir, obwohl ich bisher nur wenigen begegnet bin.«
Was sollte sie dazu sagen?, fragte sie sich und schwieg weiter.
»Habt Ihr kurz Zeit?«, meinte er. »Ich habe so viele Fragen, die ich Euch stellen möchte - und ich würde Euch gern den Tempel zeigen.«
Sie warf einen Blick zur Sonne, aber der Honigverkauf hatte nicht lange gedauert, und die Tasche mit Mermori war eine kalte, harte Angelegenheit, um die sie sich würde kümmern müssen, sobald sie Redern verließ.
Also zog sie die Brauen hoch und nickte. Tier hätte gelacht und sie »Kaiserin« genannt, wenn sie ihn so angesehen hätte. Dieser Mann lächelte einfach nur, als wäre er ohnehin überzeugt gewesen, dass sie mitkommen würde. Er hatte, dachte sie, eine Spur von Tiers Anziehungskraft und war daran gewöhnt, dass die Leute ihm folgten.
Er drehte sich um und ging voraus, die Straße hinauf, die in dieser großen Höhe so steil war, dass sie aus einer Treppe bestand.
»Ich wäre mit einem Tempel, der gebaut ist wie der Rest von Redern, ebenso glücklich gewesen«, sagte er. »Aber der neue Sept war überzeugt, dass es mir in einem moderneren Gebäude besser gefiele.«
»Der Sept folgt Euren fünf Göttern?«, fragte Seraph.
»Die Götter mögen mich retten, nein«, lachte Volis. »Aber als ein paar Älteste des Pfads ihm zusetzten, hier einen Tempel zu errichten, tat er uns den Gefallen.«
»Warum hier?«, fragte Seraph. »Warum nicht in Leheigh, das ebenfalls dem Sept gehört? Ihr würdet in einem größeren Ort doch sicher mehr Gläubige finden.«
Volis lächelte. »Ich schlage mich hier auch nicht schlecht. Eure eigene Familie besucht meine Versammlungen. Tatsächlich war ich auf dem Weg, um mit Bandor zu sprechen, als Ihr mir begegnet seid. Aber der Hauptgrund, wieso ich hier und nicht etwa in einer großen Stadt wie Korhadan bin, ist Schattenfall. Wir spüren, dass es auf diesem alten
Schlachtfeld Dinge gibt, die für uns von Bedeutung sein könnten.«
Schattenfall? Seraph verkniff sich einen Kommentar darüber, wie dumm jeder sein musste, der diese Region erforschen wollte. Das Schlachtfeld würde diesen Solsenti -Dummkopf ohnehin besser belehren als sie.
Wie Willons Laden und viele Häuser an den steileren Hängen war der Tempel in den Berg hineingebaut worden. Die Fassade bestand aus grob behauenem Holz, bis auf die Türen, die man poliert und geölt hatte, sodass sie beinahe schwarz waren.
Volis bat sie hineinzugehen, und Seraph musste auf der Schwelle innehalten, damit sich ihre Augen nach der Helligkeit draußen anpassen konnten.
Sie sah einen üppig eingerichteten Vorraum, der besser in die Burg eines Sept als in einen Dorftempel gepasst hätte. Entweder war der - wie hatte Volis ihn genannt? - ›Pfad der Fünf‹ wirklich eine wohlhabende Kirche, oder der Sept schuldete den Ältesten viele Gefallen.
»Es gibt nur drei Tempel«, sagte Volis, als er ihre Miene sah. »Zwei in Taela und den hier. Wir haben diesen Tempel als Wallfahrtsort geplant.«
»Schattenfall«, meinte Seraph. »Ein Wallfahrtsort.«
»Wo die Fünf über das Böse triumphierten«, fuhr der Priester fort, der den Zweifel in ihrer Stimme offenbar nicht wahrgenommen hatte. »Kommt und seht Euch die Zuflucht an, in der ich den Götterdienst abhalte.«
Seraph folgte ihm durch einen Eingang mit einem Wandteppich-Vorhang in einen Raum, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Der Tempel war tiefer in den Berg gegraben, als sie gedacht hatte. Die Decke des Raums wölbte sich über ihnen wie eine umgekehrte Schüssel. Nahe dem Rand war sie nur eine Handspanne
höher als die Tür, in der Mitte des Raums dreimal mannshoch. Die Steinmauern, der Boden und die
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