Rabenzauber
Kälte, die sie berührt hatte, als sie die Vögel der Weisungen in einem Solsenti -Tempel sah, wurde intensiver und lenkte sie von seinem aufdringlichen Griff an ihrem Arm ab.
»Indem sie ihn verstecken«, sagte Volis ernst, »halten die Fünf ihn gefangen, aber zu seinem Schutz. ›Schlafe, sei beschützt, bis dein Erwachen zerstört und rettet.‹«
Seraph zuckte zusammen. Dieses letzte Zitat gehörte einfach nicht in den Mund eines Solsenti , ganz gleich, wie gut er die Sprache der Reisenden beherrschte. Es hatte nichts mit dem Adler zu tun, aber …
»Er muss befreit werden«, sagte Volis. »Und der Meister des Pfads hat vorhergesehen, dass wir vom Pfad es sein werden, die den Pirschgänger befreien.«
»Der Pirschgänger ist nicht der Adler«, sagte Seraph unwillkürlich und hätte sich gleich darauf die Zunge abbeißen können. Das war gefährliches, sehr gefährliches Wissen. Er hat sich geirrt, was den Adler angeht, oder die Weisungen, die Götter sein sollen, aber der Pirschgänger …
Volis wandte ihr seinen wahnsinnigen Blick zu. Ja, er musste wahnsinnig sein. Nur ein Wahnsinniger würde davon sprechen, den Pirschgänger zu befreien.
»Ah«, sagte er. »Was wisst Ihr vom Pirschgänger?«
»Nicht mehr als Ihr«, log sie.
Sie musste sich anstrengen, tief Luft zu holen, und sich daran erinnern, dass dieser Mann ein Solsenti war, ein Solsenti , der mehr wusste, als er sollte - aber selbst wenn er sich dermaßen irrte, den Adler mit dem Pirschgänger zu verwechseln, sollte er immer noch harmlos sein.
Sie verbeugte sich knapp, eher ein Rabe vor einem Fremden als eine gute Rederni-Frau vor einem Priester, und nutzte die Bewegung, um sich seinem Griff zu entziehen.
»Meine Arbeit wartet auf mich«, sagte sie. »Danke für Eure Zeit - ich finde schon alleine hinaus.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging rasch durch den Eingang mit dem Vorhang. Sie rechnete damit, dass er versuchen würde, sie aufzuhalten, aber das tat er nicht.
Bis sie die Brücke erreichte, hatte sie den größten Teil der Angst verloren, die der Besuch bei dem neuen Priester in ihr verursacht hatte. Der Pirschgänger befand sich fest in Gefangenschaft, und nicht einmal die Schatten, die die Menschheit schon zweimal beinahe zerstört hatten, waren imstande gewesen, ihn zu befreien.
Ein Solsenti -Priester mit einer Handvoll halb verstandener Informationen stellte keine Gefahr dar - zumindest nicht für die ganze Welt, aber sie würde immer noch darüber nachdenken
müssen, was Volis’ Fantasien für sie und die Ihren bedeuteten.
Nachdem sie den Priester als geringere Gefahr abgetan hatte, blieb ihr keine Ablenkung mehr von der Last, die sie trug. Der Honig war verkauft, aber nun hatte sie Steine in ihrem Rucksack, die ihre Seele mehr belasteten als ihren Rücken. Sobald Seraph von der Hauptstraße auf den Feldweg abgebogen war, blieb sie stehen, holte die Tasche mit den Mermori heraus und zählte sie. Dreiundachtzig.
Sie packte die letzte davon so fest, dass das scharf zugeschliffene Ende ihr die Haut aufriss. Rasch wischte sie die Mermora wieder ab; es war keine gute Idee, magische Gegenstände mit Blut zu berühren. Als sie sicher war, dass sie wirklich alles abgewischt hatte, steckte sie die Mermori wieder in den Lederbeutel und packte das gesamte Bündel in ihren Rucksack.
»Ich kann nichts tun«, sagte sie leidenschaftlich, obwohl niemand sie hören konnte. »Ich weiß überhaupt nichts. Ich bin nicht fähiger als ein Dutzend anderer Raben, die alle nicht imstande waren, den Abstieg der Reisenden zu verhindern. Hier, an diesem Ort, habe ich drei Kinder, die mich brauchen. Es gibt Felder, die bepflanzt werden müssen, einen Garten, um den ich mich kümmern muss, und einen Mann, der bald nach Hause kommen wird. Ich kann nichts tun.«
Aber bei Lerche und Rabe - dreiundachtzig! Sie schluckte. Vielleicht würde Tier ja schon zu Hause sein, wenn sie zurückkehrte. Sie brauchte ihn so sehr.
Das Land, das Seraph und Tier bebauten, befand sich in einem sehr kleinen Tal, das überwiegend zu felsig war, um bewirtschaftet zu werden. Sie hatten keine engen Nachbarn. Das Land war Wildnis gewesen, als sie sich als frisch verheiratete Fremde hier niedergelassen hatten.
Auf einer Hügelkuppe oberhalb des Tals angekommen, musste Seraph gegen das Gefühl ankämpfen, dass das Land innerhalb eines Jahrzehnts wieder wild werden würde - sie war keine Prophetin, sie war einfach nur müde. Sie rückte ihren Rucksack zurecht und
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