Rabenzauber
das hatten sie wohl vergessen. Er würde veranlassen, dass Avar … Avar war sein Freund! Nur, weil Avars Bruder so über ihn redete, musste Avar nicht ebenso denken. Avar mochte ihn, er war stolz darauf, dass Phoran mehr trinken und die Leute besser beleidigen konnte als jeder andere Mann am Hof.
»Und warum ist Avar nicht hier, um sich um diese Dinge zu kümmern?«, fragte Kissel. »Ich dachte, er würde den Kaiser heute aufsuchen; immerhin ist er schon seit gestern wieder in der Stadt.«
Avar war in Taela?
»Er hatte etwas Dringendes zu tun«, grunzte Toarsen und schob Phoran zur Mitte des Betts. »Er wird behaupten, spät in dieser Nacht zurückgekehrt zu sein, wenn er den Kaiser beim Frühstück trifft.«
Nachdem die Männer ihn in seinem Zimmer allein gelassen hatten, öffnete Phoran die Augen und stand wieder auf. Er ging zu dem mannshohen Spiegel und starrte im Licht von ein paar Kerzen, die noch brannten, sein Spiegelbild an.
Schlammfarbenes, zu dünnes Haar, das an diesem Nachmittag zu Löckchen frisiert worden war, hing inzwischen schlaff um sein rundliches, pickeliges, blasses Gesicht. Hände, die einmal Schwielen vom Schwerttraining gehabt hatten, waren nun weich, dicklich und bedeckt mit Ringen, die sein Onkel abgelehnt hatte.
»Das ruiniert nur deinen Schwertgriff, Junge«, hatte der Regent gesagt. »Ein Mann, der sich nicht selbst verteidigen kann, ist zu abhängig von anderen.«
Phoran berührte den Spiegel leicht. »Aber du bist trotzdem gestorben, Onkel. Du hast mich allein gelassen.«
Allein. Angst zog ihm den Magen zusammen. Wenn Avar nicht bei ihm war, kam das Memento jede Nacht.
Wenn Avar sich tatsächlich bereits in Taela aufhielt, wie Toarsen behauptete, wäre er bei seiner Mätresse in der Stadt. Phoran könnte einen Boten schicken, der ihn herbringen würde.
Der Kaiser starrte sein Spiegelbild an und rollte den Ärmel des weiten Hemds hoch, das er trug. Im Spiegelbild waren die Abdrücke, die das Memento jede Nacht bei ihm hinterließ, im Kerzenlicht kaum zu sehen.
Avar hatte also vor, seinen Kaiser zu belügen. Avar, Phorans einziger Freund.
Der Kaiser schickte keinen Boten aus.
Essen kam in unregelmäßigen Abständen durch eine kleine Klappe nahe dem Boden, die Tier bei seiner ersten blinden Inspektion der Zelle irgendwie entgangen sein musste. Eine anonyme Hand öffnete die metallene Abdeckung, schob ein Tablett mit Wasser und Brot hindurch und schloss und verriegelte die Abdeckung dann wieder, bevor Tiers Augen sich auch nur an das Licht gewöhnt hatten.
Dennoch, er war inzwischen dankbar für diese kurzen Momente, in denen er sich überzeugen konnte, nicht blind zu sein.
Das Brot war immer gut, gewürzt mit Salz und Kräutern, und es bestand aus gesiebtem Weizenmehl und nicht aus billigerem Roggen. Brot für den Tisch eines Adligen, nicht für eine Gefängniszelle.
Zuerst hatte er versucht herauszufinden, worin die Logik hinter seiner Gefangenschaft bestand. Schließlich war er zu dem Schluss gekommen, dass er einfach nicht über genug Informationen verfügte, um die Frage beantworten zu können.
Erst dann hatte er angefangen zu toben.
Er war eingeschlafen, als er müde geworden war, ausgelaugt vom Zorn und den fruchtlosen Versuchen, einen Ausweg aus der Zelle zu finden. Als ihm klar geworden war, dass er kein Zeitgefühl mehr hatte, hatte er angefangen, sich selbst Geschichten zu erzählen, Geschichten, die er bei den alten Leuten in Redern gesammelt hatte und die Wort für Wort von einer Generation zur nächsten überliefert worden waren. Einige davon waren auch Lieder, Balladen, die zu singen beinahe eine Stunde dauerte.
Als der Zoll der Stunden zu hoch wurde, hörte er auf zu singen, zu denken und zu toben, und sank in Verzweiflung. Aber selbst die Verzweiflung verschwand irgendwann.
Schließlich entwickelte er Gewohnheiten, um die leeren Stunden zu füllen. Er vollführte Übungen, die er als Soldat gelernt
hatte. Als ihm keine mehr einfielen, die er auf diesem engen Raum praktizieren konnte, erfand er neue. Erst wenn er schwitzte und schwer atmete, setzte er sich hin und erzählte sich eine einzige Geschichte. Dann ruhte er sich entweder aus, oder wenn ihm danach war, übte er weiter.
Aber es war die Magie, die ihm wirklich ein Ziel gab.
Von einigen magischen Dingen, die er tun konnte, hatte er schon gewusst. Seraph hatte ihm erzählt, was sie wusste - und trotz der Gefahr hatte er im Lauf der Jahre tatsächlich einige Magie angewandt. Es half, dass seine
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