Rabenzauber
Schmerzen.«
Vorsichtig versuchte er, Energie in den Faden zu leiten, der erlaubt hatte, den Frauenschrei zu hören. Es kam ihm so vor, als könne er spüren, wie das ungesunde Miasma des Bösen über den Boden seiner Zelle zog. Er erhob sich schnell, aber das Gefühl hörte wieder auf, als er die Geschichte nicht mehr nährte. Es beruhigte ihn, dass er immer noch die Kontrolle darüber hatte, was hier geschah. Es war nur eine Geschichte - seine Geschichte.
Also setzte er die Bemühungen fort. »Eines Tages, nachdem der Letzte seiner Enkel gestorben war, schlief der König als alter, gebrochener Mann ein und erwachte als junger Mann von achtzehn Jahren. Zunächst nannten sie es ein Wunder, bezeichneten es als die Tat eines freundlichen Gottes, der sie von der grausigen Krankheit befreien wollte, die zwei Drittel der Erkrankten tötete. Aber die Pest breitete sich weiter aus, unbeeindruckt von der wunderbaren Verjüngung des Königs. Sie setzte sich über Grenzen hinweg und verschlang die königlichen Häuser aller Königreiche ringsumher, bis es nur noch ein einziges Königreich und einen König gab.«
An dieser Stelle versagte Tier die Stimme, als hätte die Magie dieser uralten Worte ihm jetzt erst deutlich gemacht, wie viele gestorben waren und mit ihrem Tod das Böse, das sich im König befand, genährt hatten.
»Er fraß ihr Leben«, sagte eine Stimme von der Decke über Tier.
Ein Schauder lief ihm über den Rücken, obwohl die Worte genau die waren, die er selbst hatte aussprechen wollen. Irgendwie machte die Tatsache, dass sein Zuhörer die Worte einer Rederni-Geschichte kannte, diese ganze Sache noch seltsamer.
Die leise, geschlechtslose Stimme fuhr unbeirrt fort. »Er fraß sie alle, um sich zu erhalten - und so verlor er sich.«
Tier wartete, aber als sein Besucher schwieg, erzählte er selbst weiter.
»Als die Jahre vergingen und der König erheblich länger lebte, als seine Lebensspanne währen sollte, starben auch jene unter seinen Beratern, die der Pest entkommen waren, denn sie waren sehr alt. Der König ersetzte sie durch namenlose Männer in dunklen Gewändern - und sie waren es, die ihn schließlich verrieten.
Loriel, die jüngste Tochter des Königs, ertappte sie, wie sie im Vorzimmer ihres Vaters ein Kind fraßen«, sagte Tier und zog das Entsetzen darüber in seine dunkle Zelle. Er konnte in seiner Seele das Geräusch von Zähnen hören, die die zerbrechlichen Knochen zermalmten.
Er sah es vor sich.
Eine Frau, älter, als er sie sich bisher vorgestellt hatte, stand in einer offenen Tür. Ihr Haar war hell wie das von Seraph, wenn auch eher von der Farbe des Sonnen- als des Mondlichts. Zwei Gestalten hockten vor ihr, anonym in ihren schweren Gewändern. Sie waren so mit dem beschäftigt, was vor ihnen lag, dass ihnen nicht auffiel, wie man sie entdeckt hatte. Zwischen ihnen lag ein zehn- oder zwölfjähriger Junge, dessen Sommersprossen sich deutlich auf seiner viel zu blassen Haut abzeichneten. Seine Schultern zuckten in einer Ironie von Leben, als die Berater des Königs die Köpfe in seinen Bauch drückten und fraßen.
Sein eigenes Entsetzen hielt Tier davon ab, das Bild länger aufrechtzuerhalten, aber das Geräusch ihres Schmatzens begleitete seine Stimme weiter. »Und Loriel floh zum letzten alten Berater ihres Vaters, einem Magier.«
Er hörte auf zu sprechen und sammelte seine Beherrschung, bis in der Zelle nur noch Geräusche zu vernehmen waren, die dorthin gehörten.
»Und so versammelten sie sich«, sagte sein Zuhörer.
»Und so versammelten sie sich«, wiederholte Tier, und die Wiederholung fühlte sich richtig an. Sie passte zum Rhythmus der Geschichte. Er entspannte sich - es war nur eine Geschichte, eine, die er sehr gut kannte. »Die Menschen, die die Pest überlebt hatten. Aber die Krankheit hatte die erfahrenen Krieger, die Lords und Kommandanten, genommen und nichts als ein gebrochenes Volk zurückgelassen. Loriel führte den ersten Angriff persönlich.«
»Sie starb«, flüsterte der Lauscher, und die Magie berührte Tier ebenfalls und weckte Bedürfnisse, die er nie gekannt hatte.
»Sie starb«, sagte Tier, »aber sie ließ eine Handvoll Personen zurück, die erfahren hatten, was es bedeutete, Anführer zu haben; auch der uralte Magier, der sie gelehrt und an ihrer Seite gekämpft hatte, lebte noch. Sie fochten gegen die Lakaien des Schattens. Als die Anhänger des Königs starben, beschwor er ein Heer des Bösen herauf: Uralte Geschöpfe erwachten aus ihrem
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