Rabinovici, Doron
von Dov und dem Begräbnis erzählte, von seinem Vater und
dessen Nierenleiden. Und so kam es, daß sie ihm sagte, sie habe ihn bereits im
Flugzeug erkannt. Sie sei nicht auf ihn hereingefallen, da sie bereits vor
Monaten einen seiner Vorträge gehört habe. Und so kam es, daß sie einander
zuhörten und hernach einschliefen, bis sie ihn am nächsten Morgen wach küßte,
wodurch sich so manches zusammenfügte.
3
Für mich muß kein Kaddisch
gesprochen werden. Hörst du, Ethan? Katharina schläft noch. Ich sitze im
Arbeitszimmer. Müde bin ich und kann nicht schlafen. Draußen fahren die ersten
Busse durch Jerusalem. Vor mir mein altes Aufnahmegerät, das du immer so lustig
findest. Was weiß ich, warum. Hör zu, Ethan.
Für mich muß kein Kaddisch
gesprochen werden. Meinetwegen braucht es keine Gebete und Trauerreden. Sie
werden Nachrufe schreiben, werden eine Tafel enthüllen oder das Wartehäuschen
an einer Bushaltestelle nach mir benennen. Überall ist zu lesen, wer diese
Parkbank, jenen Kinositz oder irgendein Blumenbeet gespendet hat. Bald wird
jedes Jerusalemer Pissoir an irgendeinen Moische Pischer aus New York erinnern.
Urinale gegen das Vergessen. Öffentliche Bedürfnisanstalten des Gedenkens.
Stille Örtchen gegen das Schweigen.
Trotzdem: Du hattest nicht
recht mit deinem Artikel vor fünf Jahren. Du warst gegen die Schülerexkursionen
nach Auschwitz. Ich war dort. Zigtausend Jugendliche, nicht bloß aus Israel,
sondern aus Europa, aus den Vereinigten Schtetln von Amerika, religiöse,
linke, rechte, unpolitische ... Im Zentrum die Überlebenden. Manche erbleichen
jedes Jahr, wenn sie durchs Tor gehen. Andere leben auf, sobald sie einander
und sich an diesem Ort wiederfinden. Besuche ich sie in Tel Aviv, Los Angeles
oder Buenos Aires wirken sie verloren, voller Angst, sie könnten eines Tages
in den Baracken erwachen, aber kaum sind sie drinnen, im Lager, ist es, als
wären sie befreit, zu Hause.
Manche irren umher, sprechen
die ewig gleiche Leier, klammern sich an ihre eingeübten Sätze. Halten fest.
Sind wie Aufnahmegeräte. Sie sind Gezeichnete und werden jetzt zur
Aufzeichnung, zur lebenden Audiobegleitung, wie sie einem im Museum umgehängt
wird. Tipp die Ziffern an, die da stehen, und dir wird erzählt werden. Sie
waren abgebucht, jetzt sind sie überzählig. Sie zeigen ihre Nummer her ... die
Tätowierung immer bei der Hand.
Um sie die Kinder. Hörst du, Ethan?
Alles dreht sich um die Überlebenden. Sie taumeln von einer Leidensstation zur
nächsten. Sie kreisen um den Schmerz. Wir, die noch da sind, werden
herumgereicht. Spielzeug für Pubertierende, rotieren wit vot den Jugendlichen.
Jeder ein Stehaufmännlein und alle zusammen ein einziges Ringelreia.
Vom Disneyland der Vernichtung
war in deinem Artikel zu lesen. Ob Teenager mit diesen Erlebnissen fertig
werden könnten. Ob sie die Geschichte nicht mit einem Horrorfilm verwechseln
würden. Ich erinnere mich an deine Worte. Als Buben gingen wir in den Prater. Hereinspaziert,
meine Damen und Herren! In die Geisterbahn! Damals zahlten wir noch Geld, um
uns fürchten zu dürfen. Diese Mädchen und Burschen, die im Lager zusammenkommen,
sind im selben Alter wie wir damals. Sie nehmen Aufstellung. Sie hissen die
Fahnen. Die Vergangenheit als Geländespiel. Das Vernichtungslager ein Feriencamp.
Was soll ich dir sagen? Mittendrin einmal einer mit Ohrstöpseln, er lief mit
Musik durch die Baracken. »Schalt es sofort ab«, schrie ein zweiter, kaum
älter: »Das Gerät weg! Sonst kannst du nicht mit in die Gaskammer.« Es klang,
als wäre von einer javanesischen Tempelanlage die Rede, von einer Weihestätte,
vom Allerheiligsten. Der Jüngere aber sagte: »Willst du mich etwa daran
hindern, in die Gaskammer zu gehen, du Nazi?« Das waren seine Worte: »Willst du
mich daran hindern, du Nazi?«
Hörst du, Ethan? Halbe Kinder
vor Kofferbergen und Brillenhaufen. Mitten im Krematorium das Gedudel ihrer
Telefone, der neueste Hit, eine Filmmusik oder eine Fernsehmelodie. Während der
Schweigeminute war es, da erklang einmal der Wagnersche Walkürenruf, erst die
eine Synkope leise, dann die nächste lauter, und irgendein Schlemihl rannte zu
seinem Rucksack, leerte alle Taschen, schleuderte Fetzen durch die Luft, um das
Handy zu finden, die Töne stürmten im scharfen Galopp voran, und als er es
endlich freigegraben hatte, erschallte das Hojo-toho von Gerhilde und Helmwige
durch den düsteren Raum.
Du hattest nicht recht mit
deiner Kritik. Hier
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