Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabinovici, Doron

Rabinovici, Doron

Titel: Rabinovici, Doron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anderrnorts
Vom Netzwerk:
sitze ich. Hörst du? Hier sitze ich und spreche zu dir aus
Jerusalem. Ich kenne dich seit deiner Kindheit. Ich besuchte euch in Wien. Mit
meiner damaligen Freundin Malka, der Turnlehrerin. Erinnerst du dich? Dein
Vater war wieder einmal andernorts. Geschäftsreisen. Deine Mutter bestand darauf,
uns das Ehebett zu überlassen. Sie wich aufs Sofa aus.
     
    In der Früh ein Krabbeln an
meinem Bein. Irgend etwas kroch an mir empor, und dann wurde die Decke zurückgeschlagen,
und der Vierjährige, der du warst, kam zum Vorschein. »Bist du mein Papa?« Und
ich: »Nein«, aber du hast dich an mich geschmiegt.
    Ich will nicht so tun, als
hätte dein Artikel mich nicht geschmerzt. Aber es war nicht Zorn, was ich
fühlte, als ich ihn las, immer wieder, sondern eher Stolz auf den Buben, der
damals auf meinem Bauch gelegen hatte.
    Jahre später seid ihr nach
Paris, nach London und nach New York gezogen. Aber überall warst du der
Israeli; nur in Israel wurdest du zum Wiener, zum Jekke, zum Franzosen, zum
Amerikaner. Schon als Siebenjähriger bist du im Hebräischen und im Deutschen
gleichermaßen zu Hause gewesen. Deine Aussprache war frei von jedem Akzent, und
eben deshalb warst du nirgends bodenständig, bist es immer noch nicht, sondern
wirkst bis heute überall abgehoben.
    Ich erinnere mich: Einmal
haben dich deine Eltern als Waldbauernbub verkleidet. Du in Lederhose. Ich höre
noch den Unterton, mit dem du erzähltest, daß die Gleichaltrigen in Osterreich
an den Nikolaus glauben. Sie erkennen, sagst du, die Kindergartentante hinter
dem Wattebart nicht. Du hast mich gefragt: »Sind die blind?« Einige Sommer
später sehe ich dich in Tel Aviv, wie du den einstigen Nachbarskindern
nachschaust, und du sagst — wieder nicht ohne Spott: »Sie glauben, ich werde in
Wien als Jude verfolgt.«
    Du bist ein Mischmasch aus Tel
Aviv und eine Melange aus Wien, Ethan. Ich besuchte euch wieder, als du bereits
Schüler warst. Deine Eltern erzählten, im Gymnasium hast du verkündet, nicht
Latein lernen zu wollen. In Israel brauche das niemand. Darauf meinte der
Lehrer, es sei gut, eine klassische Sprache zu studieren, doch du sollst ihm
geantwortet haben: »Im Unterschied zu Ihnen beherrsche ich Hebräisch, Herr
Professor, und das ist älter und klassischer als Ihre ganze römische Antike.«
Erinnerst du dich?
    Erinnerst du dich denn nicht?
Irgendwann hattest du von dem Gerücht gelesen, Hitler habe überlebt. Ein ganzes
Jahr lang ranntest du durch die Stadt, um den Führer zu entlarven. »Dov«,
fragtest du mich einmal, »wenn Hitler nicht gestorben ist, könnte er dann in
unserer Straße wohnen?« Weißt du noch? Du hattest einen Mann in Verdacht. Dem
schicktest du Briefe. Die Angst deiner Mutter, als sie deine Entwürfe zufällig
fand. Als sie las, was du diesem hohen Ministerialbeamten geschrieben hattest.
Deine Drohungen, seine Vergangenheit zu enthüllen. Deine Erpressungen. »Was,
wenn der uns klagt«, sagte sie. Sie wollte sich am nächsten Tag entschuldigen,
da stieß sie am Morgen in der Zeitung auf die Nachricht, daß er überraschend
zurückgetreten sei. Aus gesundheitlichen Gründen. Er ist ein verkehrtes
Chamäleon, sagte dein Vater über dich. Er paßt sich seiner Umgebung nicht an,
sondern hebt sich jeweils von ihr ab.
    Aber was, wenn wir nicht mehr
sein werden? Wenn sie dann kommen, aus Dresden, Teheran und Tennessee, aus Wien
oder Wilna, wird niemand von uns aufstehen, niemand mehr beglaubigen, was uns
am eigenen Leib widerfuhr. Nein, nicht um den eigenen Tod geht es mir. Hörst
du? Für mich muß kein Kaddisch gesprochen werden.
     
    Ethan schaltete das Band ab.
Irgendwo im Haus bellte ein Hund. Das Licht eines trüben Nachmittags lag matt
im Zimmer. Die kleinen Lämpchen der Tonanlage glühten. Kleine rote, blaue,
grüne Edelsteine. Sie saßen in großen erdfarbenen Sitzsäcken, auf einem Tisch
eine Teekanne über einem Stövchen mit Kerze.
    Sie sagte: »Er hat einzelne
Teile getrennt aufgezeichnet oder überspielt. Da, wo er das Gerät wieder
einschaltete, ist ein leises Klicken zu hören.« Noa kauerte eingerollt auf
ihrem Sack. Das Kinn auf den Knien, die Arme um die Unterschenkel.
    »Er hatte immer den uralten
Recorder dabei. Er verwendete ihn sogar, wenn er in einer Konferenz saß. Dann
packte er das Gerät aus, drückte auf den Tasten herum, bis niemand mehr dem
Vortragenden folgen konnte, und hörte selbst nicht zu, denn er war viel zu
beschäftigt, alles aufzunehmen, um es sich nachher anhören zu können.

Weitere Kostenlose Bücher