Rabinovici, Doron
zu halten. Dina und Ethan sahen einander an. Noa seufzte. Jossef
strich sich verlegen über sein Haar. Er zog ein Papier aus der Brusttasche und
begann, von Felix, von dessen Güte und Hilfsbereitschaft zu reden. Von ihm als
Ehemann und Vater. Er sagte: »Kein anderer hat sich seinem Sohn bedingungsloser
ausgeliefert.« Nach diesem Satz stockte Jossef. Er blickte sich um, als suche
er das Publikum. Er wandte sich Dina zu, schaute ihr in die Augen und wollte
das Papier mit der Ansprache in die Seitentasche seines Sakkos stecken, aber er
fuhr daneben, und so fielen die Blätter zu Boden und segelten nach vorn unter
die Bahre mit dem Leichnam. Jossef starrte seiner Rede hinterher, als täte ihm
nun leid, sie weggeworfen zu haben. Er sah in die Runde. Alle hielten die Luft
an. Ethan schüttelte den Kopf. Dina verdrehte die Augen. Beiden schwante, daß Jossef
nun über Rudi sprechen wollte, doch statt dessen sagte er: »Felix war Atheist.«
Ein Murren ging durch die
Menge. Aber Jossef gab nicht nach. »Es ist die Wahrheit!« Seine Stimme wurde
aus Unsicherheit schneidend, der Ton klang scharf. Felix Rosen sei
hierhergekommen, um eben nicht in einem Ghetto zu leben, nicht in einem
polnischen Schtetl in Hebron. Hebräer wollte er sein. Nun nickten einige der
Freunde und Angehörigen. Er sagte: »Dafür kämpfte er. Bis zum letzten
Blutstropfen«, und hier kippte etwas in Jossef, seine Stimme überschlug sich,
und begeistert von seiner eigenen Rhetorik wurde er mitgerissen.
Es war, als wäre Felix nicht
einer Krankheit erlegen, sondern in einer Schlacht gefallen. Wenn Felix jetzt
da wäre, verkündete Jossef, würde er bekennen, wie sehr es sich ausgezahlt
habe, das Leben diesem Kampf zu opfern. »Von orthodoxen Rabbinern hielt er gar
nichts«, so Jossef. »Sie und ihre Siedler waren für ihn Rassisten, Faschisten, Khomeinis.«
Den nächsten Satz konnte er
nicht mehr beginnen. »Ketzer«, schrie der dicke Fromme. Rabbi Berkowitsch murrte:
»Moische, bist du meschugge. Sei doch still!« Aber sein Chassid walzte sich
durch die Umstehenden, um Jossef vom Pult zu stoßen. Onkel Jossef wich aus,
worauf einer meinte: »Schaut euch diesen wuchernden Mazzesknedel an, eine
wildgewordene Wundergeschwulst.«
»Antisemit!« brüllte der
Fromme, und Onkel Jossef antwortete: »Mutant! Degenerat!«
»Jüdischer Nazi«, meldete sich
Efrat zu Wort, aber Schmuel, ihr eigener Cousin, entgegnete: »Uns Nazis
schimpfen, das könnt ihr, aber euch und eure Siedlungen sollen wir beschützen.«
»Rauch dein Zeug, das
beruhigt«, riet sie ihm.
Manche versuchten, die
Streitenden zu besänftigen, aber das machte alles nur schlimmer. »Laß gut sein.
Mit so etwas sollten wir uns nicht abgeben!« rief Efrats Mann dem Chassiden
Moische zu, während Nimrod zu Onkel Jossef sagte: »Was erwartest du? Die kommen
direkt aus dem Mittelalter.« Einer meinte zum Chassiden: »Laß dich nicht
provozieren. Der ist doch nicht einmal ein Ketzer, sondern nebbich ein
Ignorant.«
Die Geschäftsleute aus dem
Ausland verstanden kein Wort, zumal in Hebräisch gestritten wurde. Sie waren
hierhergekommen, um Felix Rosen die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatten sich
vorbereitet, um einem jüdischen Begräbnis beizuwohnen. Sie hatten die Riten
studiert. Von einem derartigen Geschrei rund um die Leiche war aber in keinem
Handbuch und keinem Lexikon zu lesen gewesen. Einer von ihnen fragte
Katharina: »Geht es bei diesem Brauch vielleicht ums Erbe?« Worauf sie ihn
anschaute, als habe er eine antisemitische Bemerkung gemacht.
Inmitten des Gezänks und
Gezeters ertönte plötzlich eine Stimme. Einer war ans Pult getreten und
überschrie die Streitenden. »Felix ist tot! Hört ihr? Hier liegt er. Da. Er ist
unter uns. Felix. Er ist gestorben.« Plötzlich war er da, er, der vorher
niemandem aufgefallen war, den der eine und die andere vermißt hatten, und nun
schauten alle und horchten auf.
Rudi stand vorn, und die
anderen verstummten, überrascht, erschrocken, abgestoßen. »Felix ist tot! Hört
ihr? Ich bin ihm erst vor kurzem begegnet. Aber Felix war wie ein Vater zu mir,
und zwar nur, weil ich nach einem suchte. Er ging nicht in die Synagoge. Er
lebte nicht nur in Israel. Er arbeitete auf allen Kontinenten und mit Menschen
aus vielen Ländern. Sein Jerusalem war immer andernorts und überall zugleich.
Er war im Zwischenraum zu Hause, wo ein Mensch auf den anderen trifft.«
Von einem Wort zum nächsten
wurde es ruhiger in der Halle, und sogar der Rabbiner, selbst
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