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Rabinovici, Doron

Rabinovici, Doron

Titel: Rabinovici, Doron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anderrnorts
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gegen jeden scheelen Blick zu verteidigen,
jedem entgegenzutreten, der über den schwarzen Kaftan und den breitkrempigen
Hut die Nase rümpfen würde. Jetzt, in der Gegenrichtung, von Ost nach West,
bemerkte er den muffigen, süßlichen Geruch dieses Mannes, der zu warm
angezogen war, und der Mief erinnerte ihn an den Friedhof, an den Rabbiner und
den Kantor, die er an Dovs Grab gesehen hatte, an die Gebete und Klagelieder,
die sie angestimmt hatten. Nun war er es, der scheel auf den Betenden blickte,
der beobachtete, wie er sich die speckigen Lederriemen um die Linke und um den
Kopf band. Das Aufblättern des Buches, das Gebrummel, der Versuch, vor- und
zurück- zu wippen, sich zu wiegen. Aber da war kein Platz. Der Körper schien im
Fett eingeschlossen und erinnerte Ethan an eine riesige Raupe, die sich nicht
entpuppen, nicht zum Falter entwickeln wollte, solange der Messias nicht
erschienen war.
    Die linke Armstütze von der
Frau und die rechte vom Gläubigen okkupiert. Rosen kauerte zusammengepreßt, ein
Vierjähriger zwischen Mutter und Vater. Das Signal ertönte, das
Anschnallzeichen erlosch, die Schnappverschlüsse der Gurte klickten, und wie
auf Befehl stand ein Teil der Passagiere auf. Er kannte dieses Ritual seines
Volkes, als folgten sie einem Gebot des Unaussprechlichen, einem Gesetz ihrer
Natur, dem Instinkt einer ewigen Unrast, und schon bat der Fromme neben ihm
hinauszudürfen, weshalb auch Ethan, dann die ältere Dame aufstehen mußten, um
ihn vorbeizulassen. Der Religiöse stellte sich an den Paravent, der die
Business Class vom Rest der Maschine trennte, umschloß mit einer Hand sein
Kompendium, hielt sich mit der anderen an der Kabinenverkleidung fest und
begann zu schaukeln, als wolle er dem Flugzeug mehr Schwung verleihen, um
schneller ans Ziel zu gelangen. Die Gebetskapsel auf seinem Kopf verstärkte
den ungestümen Eindruck, wirkte wie ein Horn, das seinem Schädel entsprang, ein
Überbleibsel aus früheren Zeiten. Ethan kannte die jüdischen Mystiker, hatte
als Soziologe in verschiedenen Ländern Chassiden beobachtet, aber noch nie war
er einem Mann begegnet, der sich mit solcher Inbrunst in die Schrift
versenkte. Es schien, als rüttle er an dieser Welt, um hinter ihre Fassade zu
kommen.
    Ethan griff nach seinem Laptop
und schaltete ihn ein, dann öffnete er die Dateifassung der Dissertation und begann
zu lesen. Eine Untersuchung über die Darstellung von Migranten im
österreichischen Film.
    Sie kenne ihn, sagte mit
einemmal die Dame zu seiner Linken, sie kenne ihn gut. Er sei doch der kleine
Dani, so habe sie ihn früher gerufen, als Bub, und Ethan stimmte zu, denn viele
hatten die mütterliche Koseformel Ethanni zu Danni verkürzt, weil das im
Deutschen eingängiger klang. Sie sei mit seinen Eltern eng befreundet gewesen.
Als er ihr versicherte, von Anfang an geahnt zu haben, ihr bereits begegnet zu
sein, winkte sie ab: »Ersparen Sie uns das.« Sie griff in ihre Handtasche und
holte einen Tablettenspender hervor, in dem die Kügelchen, Dragees und Kapseln
in einzelne Fächer für je einen Wochentag aufgeteilt waren. Das werde ihr
Frühstück. Sie zog ein seidenweißes Taschentuch hervor, breitete es aus und
arrangierte die Medikamente, als seien es Steine in einem Brettspiel. Ob sie an
einer Krankheit leide? »Nein. An mehreren.« Sie sah sich um. Nicht einmal im
Flugzeug, meinte sie, könne ihr gemeinsamer Stamm, diese masochistische
Internationale, einen Moment stillsitzen. Selbst in den Lüften seien sie ein
Nomadenvolk. Die Männer erfasse, vielleicht seit der Beschneidung, eine Unruhe,
als litten sie unter einem Jucken in den Beinen, ein Fluchtreflex, der im
Schtetl eventuell nützlich gewesen sein mochte.
    In der Reihe vor ihm
wienerische Laute. Wortfetzen drangen durch das Vibrieren der Maschine. Einer
berichtete vom Tauchen im Roten Meer. Rochen, Haifisch, Muränen. Der andere,
ein Pilger im Falsett, über Via dolorosa, Grabeskirche, Kapernaum.
    Der Orthodoxe wippte vor und
zurück, federte in den Knien und begann mit einem Headbanging, als gehöre er
einer Hard-Rock-Band an, auch wenn seine herumhüpfenden Schläfenlocken eher an
die Dreadlocks der Rastafaris erinnerten. Und dann sang er wie einer, der über
Kopfhörer Musik hört und, ohne es zu merken, laut mitträllert. Die Passagiere
um ihn herum glotzten ihn an. Hätte ein Liebespaar es hier vor aller Augen
getrieben, wäre ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit gezollt worden. Eine
Flugbegleiterin sprach ihn an, er solle nicht den

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