Rabinovici, Doron
unterm Tisch
herumkrabbelte, redeten die Erwachsenen oben unaufhörlich von Politik. Jede
Handlung war vollgesogen mit Politik. Sie sprachen und sie sangen davon. Sie
lachten und sie weinten darüber. Glaube mir. Wenn ich mit anderen Kindern
abends vom Spielen zurückkam, schallte der einzige israelische Fernsehsender
aus allen Wohnungen. Wenn die Nachrichten kamen, wurde in allen Häusern der
Ton lauter gestellt, und wir, die Kleinen, trippelten von den Neuigkeiten
begleitet heim. Damals - sogar noch in den Siebzigern - fuhren viele mit den
öffentlichen Bussen, und der Fahrer ließ das Radio laufen, stellte es zur
vollen Stunde lauter oder wurde von einem der Fahrgäste darum gebeten, weil
keiner etwas versäumen wollte und schon gar nicht den nächsten Anschlag oder
eine kommende Eskalation. Und selbst noch in den Neunzigern hingen alle an den
Geräten, wenn es wieder Sondermeldungen gab. Aber heute, Rudi, wenn ich die
Kollegen von der Arbeit, die Studenten in meinen Vorlesungen, meine
Jugendfreunde sehe, spricht keiner mehr gerne über Politik. Die Leute reden nicht
mehr über die Regierung und die Parteien, sondern sie streiten allenfalls über
die neuesten Restaurants und Pubs. Früher trafen sie sich beim Essen, um zu
politisieren, später politisierten sie nur noch, um gut essen zu können. Heute
verdirbt ihnen ein Wort über die nationale Lage den Appetit.«
Rudi widersprach nicht. Er
erinnerte sich an einen Nachmittag, den sie zunächst zu dritt am ehemaligen Hafen
verbracht hatten. Ein Lokal direkt an der Küste. Über ihren Köpfen waren
Flieger hinweggezogen, um auf dem kleinen Flughafen in der Nähe zu landen.
Später setzten sich einige alte Freunde von Noa zu ihnen, mit denen sie sich
verabredet hatte. Alle waren künstlerisch tätig. Sechs Singles und drei
Pärchen. Kinder mit Skateboards und Fahrrädern.
Auch in dieser Runde war der
Konflikt kein Thema mehr, weil ohnehin bereits alles gesagt war. Wozu sich
wechselseitig versichern, wie hoffnungslos die Lage war? Weshalb so tun, als
wäre von dieser Koalition irgend etwas zu erwarten? Oder auch von der
Opposition? Vor wenigen Jahren hätten Noas Bekannte einem Ausländer wie Rudi
erklärt, unter welchen Bedingungen ein Frieden machbar sei. Leute wie sie wären
überzeugt gewesen, das Land müsse bloß geteilt werden. In der Zwischenzeit waren
die Parolen der ehemals Linken zu den Leerformeln der Mehrheit geworden, zu
einem Konsens, der allen nun nur noch wie ein bloßes Lippenbekenntnis erschien.
Diejenigen, die jahrelang vergeblich zu Verhandlungen aufgerufen hatten,
waren nun gespalten. Die einen glaubten, auf der anderen Seite sei niemand, mit
dem zu reden wäre. »Es gibt keinen Partner«, wiederholten sie bei jeder
Gelegenheit, und wenn es um militärische Fragen ging, sagten sie gerne: »Ejn
brera«, was nichts anderes bedeutete als: »Es gibt keine Alternative.« Die
anderen hingegen meinten, die eigene Führung und die Siedler seien schuld, daß
keine Lösung in Sicht war. Manche dachten, es sei längst zu spät, um die beiden
Nationen noch in je einen Staat auftrennen zu können. Fast alle aber hatten
aufgegeben.
Zwei Tage später saßen Rudi
und Ethan in einem Cafe. Ethans Absagen waren aufgefallen. In dem Troß, der von
einer international besetzten Konferenz zur anderen rund um den Globus zog,
zählte er zum festen Kern. In den letzten Wochen war er zu sieben verschiedenen
Veranstaltungen nicht erschienen. Nun sollte er in Los Angeles, im Museum der
Erinnerung, sprechen, aber wieder hatte Ethan erklärt, nicht hinfahren zu
wollen. »Ein Kollege fragte mich bereits, ob es stimmt, daß du im Sterben
liegst«, sagte Rudi.
»Was hast du ihm geantwortet?«
»Ich erzählte ihm von einem
Familienleiden.«
Ethan hatte Rudi gebeten, den
Vortrag in Los Angeles für ihn zu halten. »Du wirst ja ohnehin dort sein. Warum
solltest du nicht neben deinem Referat auch meines ablesen. Ich werde einfach
einen alten Text ein wenig umschreiben.«
Zwei Tage später flog Rudi in
die USA. Im Flugzeug schrieb er seine eigene Vorlesung zu Ende. Der Zwischenstopp
war kurz bemessen. Der Flug von Tel Aviv hatte Verspätung, und so fürchtete er,
den Anschluß in Heathrow zu versäumen. Er stürzte aus dem Flugzeug, hastete
mit seinem Köfferchen und seiner Computertasche die Gänge entlang.
Heathrow versank an diesem Tag
wieder im Chaos, der Flughafen platzte aus allen Nähten. Im Transitbereich
herrschte Gedränge, vor den Sicherheitskontrollen ging
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