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Rabinovici, Doron

Rabinovici, Doron

Titel: Rabinovici, Doron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anderrnorts
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Freitag in
die Disco und in die Bar liefen, die Nächte durchmachten und Joints rauchten,
zünden unversehens am Schabbath die Kerzen an, segnen Brot und Wein - alles
wegen der Kinder, sagen sie zunächst -, und dann beginnen sie auf einmal die
überkommenen Ressentiments und ihre eingefleischten Ängste zu lieben. Ängste,
von denen niemand ahnte, daß sie die überhaupt haben. Ängste, vor denen sich
alle anderen fürchten müssen.«
    Rudi schüttelte den Kopf. Er
fühlte sich hier verjüngt. Tel Aviv — wenn er durch diese Straßen ging, war
ihm, als wären alle, die ihm entgegenkamen, Büchern entsprungen. Sie redeten
Hebräisch, Jiddisch, Französisch, Russisch, Englisch, Polnisch, Deutsch,
Italienisch, Amharisch oder Arabisch. Und da waren auch noch die papierlosen
Zuwanderen Sie sprachen Filipino, Rumänisch, Mandarin, Yoruba oder auch Igbo.
    Eines Tages war er durch eine
schmale Gasse gegangen, die parallel zur Strandpromenade lief, dann im rechten
Winkel abbog, um in die Dizengoff, die rastlose Geschäftsstraße, zu münden. In
diesem engen Durchfahrtsweg zwischen den alten Bauhausgebäuden war es mit einemmal
ganz still. Eine Katze strich eine Mauer entlang, irgendwo Vogelgezwitscher und
plötzlich von einem kleinen Balkon im ersten Stock die unverkennbare Stimme
von Lotte Lehmann. Sie sang eines ihrer Lieblingslieder, den Gesang Weylas. Zunächst das leise Wogen des
Klaviers, dann die ersten Worte. Du bist Orplid, mein Land! Die Hymne auf ein Land der
Sehnsucht, auf einen Ort, der nah und fern zugleich war, und dann sah Rudi
einen alten Mann im kurzärmeligen Hemd, mit dicker Hornbrille und schlohweißem
Haar, eine greisenhafte Gestalt, die auf der Veranda saß und stumpf vor sich
hin blickte. War er noch mit der Schallplatte im Gepäck hierher entkommen?
Dachte er jetzt zurück an die einstige, die unrettbar verlorene Heimat? Im Tel
Aviv der dreißiger und vierziger Jahre war Deutsch aus den Straßen und Kinos
verbannt worden. Bei manchen deutschen Filmen war als Sprache Österreichisch
angegeben worden, um keinen Unmut zu provozieren. Du bist Orplid, mein Land! /
Das ferne leuchtet. Lehmanns Gesang gewann an Kraft. Die Musik steigerte
sich zum Crescendo. Vom Meere dampfet dein besonnter Strand / Den Nebel,
so der Götter Wange feuchtet. Rudis Hemd klebte an der Haut. Die Mittagshitze war
unerträglich. Die Stadt brodelte. Sie war weit weg und doch nur hinter der
nächsten Ecke. Uralte Wasser steigen! Verjüngt um deine Hüften, Kind!
    Er war weitergegangen, ohne
vom alten Mann auf dem Balkon entdeckt worden zu sein. Als er das Gäßchen verließ,
stand er wieder im Lärm. Eine Asiatin stöckelte an ihm vorbei. Die Jeans saßen
tief auf den Hüftknochen. Der Stringtanga lugte seitlich hervor. Sie klingelte
an einem Geschäftslokal, das zu einer Wohnung umgebaut worden war. Jemand
öffnete ein Fenster, worauf sie auf das Gesims stieg, um hineinzugelangen. Rudi
überquerte die Straße, an der die großen Hotels lagen. Auf einem heruntergekommenen
Platz über dem Meer — die Ruine einer verrotteten Diskothek erinnerte hier an
die Exaltiertheit und das Klangfieber der achtziger Jahre - trank er an einem
Stand einen Becher frisch gepreßten Orangensaft. Ein Afrikaner schleppte eine
Kühltasche umher und sang den Namen der Eismarke, die er anbot: »Artik!«
    Nahe der Brandung, wenige
Meter entfernt von den Surfbrettern der Jugendlichen und von den Chassakes, wie
die alten levantinischen Flachboote der Lebensretter hier genannt wurden,
verlief die Jarkon, und wer ihr nordwärts folgte und dann nach rechts
abzweigte, konnte bereits das Haus erkennen, in dem Felix und Dina wohnten.
Von ihrem Wohnzimmer aus reichte der Blick über die Flachdächer, über die
Wassertonnen und das Antennengestrüpp bis zu den Minaretten und dem Uhrturm in
Jaffa. Der Weg zur Wohnung wurde gekreuzt von der Dizengoff, wo die Lokale
überlaufen waren und die Kellner in der Mittagshitze von einem Tisch zum
nächsten jagten, und inmitten des Getöses war Rudi, als säße er am Boulevard
Saint-Germain oder in Berlin am Kurfürstendamm.
    Du bist Orplid, mein Land. Von hier war es nicht mehr
weit bis nach Jaffa, wo Ruinen arabischer Häuser neben neuen Prachtbauten
lagen, die sich nahe der Küste erhoben. Aber was war schon weit? Nicht Gaza,
nicht Ramallah und nicht Jerusalem.
    Ethan sagte zu ihm: »Du hast
keine Ahnung. Als ich ein Kind war, mag es noch Reste des ursprünglichen Tel
Aviv gegeben haben. In den Sechzigern, als ich noch

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