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Rabinovici, Doron

Rabinovici, Doron

Titel: Rabinovici, Doron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anderrnorts
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vier Tage davor Abstinenz üben. Kein Samenerguß.
    Draußen prügelte die Sonne auf
sie ein. Ethan fragte: »Du willst Jude werden? Samt Beschneidung?«
    »Ja, weil ich mich als Jude
fühle.«
    »Na, dann. Wenn du es ohnedies
schon bist. Wozu noch übertreten? Was brauchst du den Segen der Rabbiner? Oder
glaubst du etwa an Gott?«
    »Nein. Nur wenn es unbedingt
sein muß ...«
    Ethan verzog den Mund. Er
verbarg sein Mißtrauen nicht. Wie verlockend, ein Opfer sein zu dürfen, ohne je
gelitten zu haben. Sie trotteten nebeneinander her, verließen die Klinik durch
den Hauptausgang.
    Unvermittelt blieb Rudi
stehen. »Wenn ich erklärte, ab morgen Hopi oder Sioux zu werden, würdest du es
akzeptieren. Ich könnte mir einbilden, ein keltischer Druide zu sein, mir
einen Helm mit Hörnern aufsetzen, und du würdest es pittoresk und lustig
finden. Und was ist ein echter Hopi? Niemand läuft mehr mit Pfeil und Bogen
durch die Prärie.«
    Passanten starrten sie an.
Ethan packte Rudi am Ärmel. »Ist schon gut«, murmelte er und zog ihn schnell
weiter.
    Ein Wechselbalg war er von
Anfang an gewesen. Bei ihm war es nicht wie bei Kindern, die zuviel Karl May
gelesen hatten und daraufhin mit Federschmuck durch den Park schlichen. Das
Judenkind war er schon vor seiner Geburt gewesen. Seit es die Mär von Ahasver
gab, seit er heimatlos durch die Welt geirrt war. So hatten ihn alle gesehen,
die wußten, daß sein leiblicher Vater ein Überlebender war. Der Vater war sein
schwarzer Fleck. Der Schattenriß mit Krummnase. Mama wollte nichts von ihm
wissen. Nichts von ihrer einstigen Liebe, aber auch nicht viel von ihrem Sohn.
Er war kein Wunschbaby gewesen, sondern Ausdruck ihrer Verzweiflung. Seine
Geburt als ihre Niederlage. Der Geliebte hatte längst für seine Ehe optiert.
Einige Jahre später hätte die Mama ihn wohl abgetrieben. Unter ärztlicher Obhut
und straffrei. Aber damals ...
    Ob sie es nicht dennoch
versucht hatte? In der Oberstufe stellte sich Rudi diese Frage. Aber da hatte
sie ihn schon fortgebracht zu den Ersatzeltern. Sie winkte zum Abschied. Nicht
ohne Tränen in den Augen. Galten die ihm oder ihr selbst?
    In der Pflegefamilie sollte er
sich gefälligst fühlen wie zu Haus, und der Mutter in Wien und der Tiroler Mama
durfte er keinen Kummer bereiten. Er sollte sich einleben. Am Sonntag in die
Kirche gehen. Der Pfarrer warnte die Buben davor, das Spatzerl in die Hand zu
nehmen. Wer sein Glied anfaßt, der komme in die Hölle, hieß es, und da wußte
Rudi wochenlang nicht, wie er auf dem Klo in die Hose fahren solle, um dieses
Teil da hervorzuziehen. Aber so spitzfingrig er es auch anfaßte, das Judenkind
blieb er ohnedies. Die Welt war voll mit Menschen, die Juden, Orientalen oder
Südseeinsulaner sein wollten und sich und ihr Zuhause exotisch ausstaffierten.
Räucherstäbchen versüßten die Luft. Im Hinterhof bauten sie ein Nomadenzelt
auf. Sie setzten eine Baskenmütze auf, ließen sich einen Schnurrbart wachsen
und tranken Milchkaffee aus der Müslischale, um sich französisch zu fühlen. Sie
tanzten Flamenco, weil ihnen ihr Heim nur noch spanisch vorkam. Warum auch
nicht? Wieso sollte es lächerlicher sein, am Wörther See einen Sarong zu tragen
als eine Lederhose? Sah etwa ein Kilt in Paris possierlicher aus als in
Edinburgh?
    Er aber, der sich in vielen
Staaten und Sprachen eingelebt hatte, mußte sich nicht kostümieren. Im
Internat galt er bald als Experte fürs Judentum. Sein Vater, der nie dagewesen
war, hatte ihn geprägt. Durch Abwesenheit. Rudi hatte Judaistik, Jiddisch und
Hebräisch studiert. Er wußte mehr über Thora und Talmud als viele, die in jüdischen
Familien aufwuchsen. Er kannte die Gebete und Gebote.
    Bei ihm war es keine Laune, wenn
er sagte, übertreten zu wollen. Andere mochten sich maskieren, wenn sie konvertierten.
Er schminkte sich ab. Israelis wie Ethan waren in Zion geboren, doch am
liebsten lebten sie andernorts, in New York, San Francisco oder London, in
Paris, Berlin oder Rom. Ethan gefiel das Land am besten, wenn es weit weg war.
Im Taxi sagte er zu Rudi: »Ich warne dich. Das Judentum ist eine
Alterserscheinung. Diese Jungen, die zunächst mit freiem Antlitz und frischen
Ansichten in die Welt stürmen, werden irgendwann müde, und ihre Gesichter
zerfließen, ihre Nasen werden länger, und ihre Augen trüben sich ein, bis alle
meinen, sie schauten abgeklärt. So werden sie zu alten Juden. Und sie, die nie
an Gott glaubten, die über Koalition und Armee lästerten, die jeden

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