Rache - 01 - Im Herzen die Rache
vom Sturm gebeutelten Schiffes zu bewegen. Dann erreichten sie die Wand.
Mit JD auf dem Rücken konnte sie jedoch nicht hinaufklettern. Sie ließ den Blick schweifen, um nach einer anderen Lösung zu suchen. Es war so laut. Und so hell. Und er blutete, dieser Junge, der sie immer beschützt hatte.
In der Ecke lag ein Haufen Schutt; er reichte fast bis auf halbe Höhe der Wand. Sie brauchte nur noch vier weitere mühsame Schritte, bis sie ihn erreichte. JD verlor jetzt immer wieder das Bewusstsein. War kaum ansprechbar. Ems Lunge brannte vor Anstrengung. Sie fragte sich, ob die Furien ihr wohl amüsiert zuschauten – falls das hier bloß ein bisschen zusätzliche Unterhaltung zu ihrem Masterplan war. Doch sie schob den Gedanken beiseite. Sie musste sich konzentrieren.
»Du musst mir helfen, JD«, keuchte sie. »Bleib genau so, wie du jetzt bist.« Dann manövrierte sie ihn, aufrecht sitzend wie eine kaputte Puppe, auf den Schutthaufen hinauf. Sein Kopf hing schlaff zu einer Seite. Sie hielt zärtlich sein Gesicht und wischte ihm einen Streifen Blut von der Schläfe. Erst jetzt registrierte sie, was er anhatte – dunkle Jeans und ein langärmliges Holzfällerhemd. Keinen Hut. Keine merkwürdige Jacke. Kein Hirsch-Sweatshirt. Er war in diesen Sachen auf der Schulversammlung gewesen. Er hatte sich total viel Mühe gegeben, normal für sie auszusehen. Die Erkenntnis traf sie wie ein Stich ins Herz.
»JD, hör mir zu. Halt bloß durch!«
Sie streckte ihre Hände nach dem oberen Rand der Wand aus. Dann zog sie mit den Armen, stieß sich mit den Füßen ab und schwang sich hinauf. Als sie aufkam, grub sich die Mauerkante in ihren Magen; sie spürte, wie ihr linker Pulloverärmel am Ellenbogen aufriss.
Ein Bein hinauf, wie ein Frosch. Danach die Knie, die an der Wand entlangschrammten, weil ihre Jeans an den Stellen plötzlich Löcher hatte. Anschließend umdrehen, den Blick wieder in die Grube richten, auf den Bauch legen und jetzt die Arme nach ihm ausstrecken. Rufen, rufen, ohne überhaupt die eigene Stimme zu erkennen.
»JD! JD! Wenn du mich hören kannst, dann heb die Arme hoch.« Sie war völlig verzweifelt. »JD – wir stehen das jetzt gemeinsam durch und dann essen wir zusammen Barbecue-Pizza und spielen Brettspiele und gehen den ganzen Sommer lang schwimmen. Ich werde dich ganz oft küssen. Im Mondschein und im Wasser und an der Eiche, von der dein Dad glaubt, sie stünde auf eurem Grundstück, und mein Dad felsenfest behauptet, dass sie auf unserem steht. Aber bitte, JD, mach, dass wir es schaffen.« Sie redete ohne Unterbrechung auf ihn ein, heulte und zerrte dabei, so gut es ging, am Kragen seines Hemdes.
Mit ungeahnten Kräften schaffte sie es irgendwie, seine rechte Körperhälfte so weit anzuheben, dass sie ihre Hand unter seinen Arm schieben konnte. Sie zog daran, bis ihr dasselbe auch auf der linken Seite gelang. Und dann, Hände und anschließend Ellenbogen um seinen Oberkörper gelegt, schaffte sie es, ihn ganz aufzurichten. Ich liebe dich. Hauruck. Ich liebe dich. Hauruck. Ich liebe dich. An ihrem Haaransatz standen Schweißperlen; ihre Nase lief und der Rotz tropfte ihr auf die Lippen.
Es gab ein lautes mechanisches Kreischen, als der Betonmischer anfing, seinen Inhalt abzuladen. Die zähflüssige graue Pampe verteilte sich in dem Fundament, umschloss die Rohre und füllte langsam jeden Zwischenraum aus. Sie zog fester, kam wieder hoch auf die Knie, um eine größere Hebelwirkung zu erzielen. Bitte, flehte sie. Bitte. Lass mich das schaffen. Und dann, gerade als der Beton anfing, sich über JDs Converse Sneakers zu verteilen, hievte sie ihn mit einem letzten Ruck an den Rand der Grube nach oben. Sie beugte sich über ihn, bedeckte seinen Körper mit ihrem und schluchzte vor Erleichterung.
»JD«, sagte sie und rüttelte ihn an den Schultern. »JD, Gott sei Dank. Gott sei Dank. Alles wird gut. Ich hole Hilfe.«
Sie legte ihr Ohr an seinen Mund. Seine Atmung war flach. Sie fühlte seinen Puls, der zwar da, aber überaus schwach war.
Rasend vor Schmerz wirbelte sie herum.
»Wo seid ihr?«, schrie sie in die Nacht. »Wo seid ihr hin?« Sie war außer sich und blind vor Wut. »Ali! Meg! Ty! Kommt her. Raus damit! Was passiert jetzt?«
Da standen sie, etwas abseits im Dunkeln. Alle drei schienen sie nun zu flackern. Em spürte, dass sie gleich verschwinden würden. Und wenn sie erst fort waren, würde JD sie auch verlassen.
»Wartet! Halt!« Sie stand auf, stolperte vor Schwäche, ganz
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