Rache - 01 - Im Herzen die Rache
am nächsten lag, wo gerade gebaut wurde.
Sie ging einen Schritt hinein. »Gabs?« Und dann noch einen. »Ich bin da, Gabby. Ruf einfach, dann komme ich zu dir.« Das leise Weinen hielt an, doch niemand sagte etwas.
Je weiter Em sich vom Eingang entfernte, umso dunkler wurde es. Sie hielt ihr Handy in die Höhe und benutzte es als behelfsmäßige Taschenlampe. Ihr Atem kam in kurzen Stößen und verwandelte sich vor ihren Augen in der dunklen eisigen Luft zu kleinen Wölkchen.
Sie ging langsam durch die lange, leere Halle. Große rechteckige Öffnungen – da, wo überdimensionale Schaufenster vorgesehen waren – gaben, aufgerissenen Mäulern gleich, gähnende schwarze Löcher frei.
Em meinte, aus der Dunkelheit ihren Namen gehört zu haben, ein Flüstern nur, aus einem Gang, der sich zu ihrer Linken erstreckte.
»Du hättest nicht so weit reingehen sollen. Ich kann überhaupt nichts sehen. Ich komm ja schon.« Sie sprach zu laut und zu barsch, doch das kümmerte sie nicht weiter; denn sie redete hauptsächlich, um ihre eigenen Gedanken zu übertönen.
Und dann, oh Wunder, begann das Handy in ihrer Hand zu vibrieren und gab ein kleines Pling! von sich.
Sie musste an einer Stelle sein, an der es kurzzeitig Empfang gab. Sie hielt erstaunt inne und schaute auf ihr Display. Aber die Nachricht war gar nicht von Gabby. Sie kam von JD.
Bin auf der Schulversammlung, stand da. Gabby ist hier???
Em erstarrte das Blut in den Adern und gleichzeitig wurde ihr schwarz vor Augen, so als blickte sie direkt in einen Kamerablitz. Ihre Arme verkrampften sich und sie begann zu frieren.
Da war Gabbys Stimme wieder zu hören: »Arme kleine Emily …« Und im selben Moment verwandelte sich das leise Weinen in ein gehässiges Kichern.
Es war, als würde sich der Vorhang aus Dunkelheit vor ihr teilen: Da, direkt vor ihr, standen sie. Die Furien – jetzt wusste sie, dass Drea recht hatte. Ali, deren hellroter Lippenstift sie allzu sehr an menschliches Blut erinnerte. Meg – das elfenhafte Mädchen vom Straßenrand. Sie hatte anscheinend inzwischen ein neues Halsband, wieder ein leuchtend rotes, das eng anlag und genau unter ihrem rechten Ohr zu einer Schleife gebunden war. Es erinnerte Em an diese Geistergeschichte über das Mädchen, das immer ein grünes Halsband trug – und dem, hätte man es ihm jemals abgenommen, der Kopf weggerollt wäre. Und dann war da noch das dritte Mädchen. Em erkannte ihr feuerrotes, mit einer weißen Strähne durchzogenes Haar und ihre modelmäßig schönen Gesichtszüge wieder: Sie hatte nach Ian Minsters Party am Straßenrand gestanden. Alle drei waren sie da gewesen. Das musste Ty sein, diejenige, die Chase verführt hatte. Oh Gott. Chase.
Em war an der Reihe zu bezahlen. Jetzt. Die Erkenntnis überrollte sie wie eine gewaltige Woge des Schreckens. Es war gar nicht Gabby gewesen, die sie angerufen hatte. Sie waren es gewesen. Sie hatten sich als Gabby ausgegeben, um sie herzulocken.
»Lasst mich in Ruhe«, sagte sie, doch die Worte klangen nur wie eine gewimmerte Bitte.
Sie sahen sie an. Nein, sie sahen in sie hinein. Und während ihre äußere Erscheinung vordergründig schön wirkte, boten sie doch irgendwie einen grausigen Anblick. Ihre Gesichter glichen Masken. Em musste fliehen.
Ein Schritt rückwärts, dann noch einer, dann drehte sie sich um und rannte los. Lauf- nicht stehen bleiben. Sie schaute nicht zurück, doch sie spürte, dass sie da waren. Wie Rauch zogen sie ihr nach. Em keuchte beim Rennen, wohingegen sie keinen einzigen Laut von sich gaben. Der Gang schien auf einmal viel länger zu sein als vorher.
Plötzlich merkte sie, dass die den falschen Weg eingeschlagen hatte. Sie lief in die verkehrte Richtung. Dreh um! Der Gedanke schien eine Ewigkeit zu brauchen, um aus ihrem Hirn bis zu den Beinen zu gelangen. Sie bewegte sich in Zeitlupe. Schneller. Sie musste schneller laufen. Raus hier. Zum Auto. Weg von hier.
Em! Sie riefen nach ihr. Du kannst nicht entkommen. Es gibt keinen Ausweg. Verstehst du das denn nicht?
Es musste noch einen anderen Ausgang geben. Schließlich war das hier ein Einkaufszentrum. Irgendwo musste ein weiteres klaffendes Etwas sein. Sie lief immer weiter und hielt dabei ihr Handy vor sich in die Höhe, um das schwache Licht auszunutzen, das es abgab.
Sie folgten ihr nach wie vor. Sie sprachen nicht laut, doch sie konnte sie in ihrem Kopf hören. Em. Em. Em. Vor ihr tauchte eine Türöffnung auf. Sie ging hindurch. Nein. Falsch. Kein weiterer Gang –
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