Rache - 01 - Im Herzen die Rache
verdreckt und weinend und an den Knien blutend. »Das ist Unrecht. Das wisst ihr. Ihr müsst es wissen. Das ist keine Gerechtigkeit. Keine Vorsehung. Das hier nützt niemandem. Und ihr beweist damit auch keinem etwas.«
Ali und Meg waren kaum noch zu sehen. Sie waren praktisch durchsichtig geworden. Doch Ty drückte sich weiterhin in der Nähe herum. Em konnte das Weiß ihrer Augen erkennen und das Weiß in ihren Haaren. Es war total gespenstisch – so als wären die drei überhaupt nur für diesen einen Augenblick erschienen. Em ging auf sie zu und griff nach Tys Arm.
»Ty. Bitte. Was du Chase angetan hast – was du jetzt mir antust –, das ergibt keinen Sinn. Es ist nicht richtig. So darf die Welt nicht funktionieren. «
Die Worte schienen zwischen ihnen zu vibrieren, eine eigene Gestalt anzunehmen. Und schließlich trat Ty mit einem beinahe schon menschlich wirkenden Gesichtsausdruck vor, weg von ihren Cousinen.
Sie streckte den Arm aus, und als sie die Faust öffnete, lagen fünf schimmernd rote Kügelchen in ihrer Hand. Sie sahen aus wie Beeren oder wie perlenförmige Pillen. Genau wie die Orchideen besaßen sie eine kristallene Konsistenz.
»Wenn du die schluckst«, sagte Ty, »kannst du JD retten. Aber ich warne dich – es gibt Bedingungen und es hat Konsequenzen.«
Em blickte Ty an, dann die Samenkörner in ihrer Hand, schließlich wieder JD, dessen Atmung nun wie ein verzweifeltes Reiben klang. Sie zögerte. War das eine Falle? Würden diese kleinen Pillen sie einfach vergiften, sie umbringen, zusammen mit JD?
Sie dachte an die Versprechen, die sie ihm gegeben hatte. An all die Dinge, die sie gemeinsam unternehmen wollten. Ich werde dich ganz oft küssen.
»Was für Bedingungen? Welche Konsequenzen?«, wollte sie wissen und das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Sie werden dich für immer an uns binden« war alles, was Ty antwortete, während sie mit funkelndem Lächeln abwechselnd in Ems Blickfeld hinein- und wieder hinausschwebte. »Und du darfst keiner Menschenseele davon erzählen. Nicht von uns, nicht von heute Abend. JD wird von Neuem in Gefahr geraten – in weitaus schlimmere Gefahr –, wenn du ihm erzählst, was passiert ist.«
»Was wird er denn dann denken?« Em war von verzweifelter Hoffnungslosigkeit erfüllt. »An was wird er sich erinnern?«
»Das brauchst du nicht zu wissen«, sagte Ty. »Nimmst du sie jetzt oder nicht?«
Die Entscheidung war nicht schwer. Sie würde JD retten – oder es zumindest versuchen.
Die Kügelchen fühlten sich glatt und kühl an, als Ty sie ihr gab. Wie winzig kleine Steine. Em steckte sie alle auf einmal in den Mund.
»Schluck sie runter«, forderte Ty sie auf. »Unzerkaut.«
Em schluckte, spürte sie auf der Zunge und schließlich die Kehle hinuntergleiten, die vom Schreien noch ganz wund war. Sie schmeckten bitter. Sie konnte beinahe spüren, wie sie in ihrem Inneren Wurzeln schlugen, wobei sie einen brennenden Schmerz in Brust und Bauch verbreiteten.
Und dann hörte sie ein Rascheln hinter sich. JD bewegte sich. Mit flatternden Lidern schlug er die Augen auf. Er öffnete den Mund, hustete ein bisschen und flüsterte: »Em?« Staunend sah sie zu, wie er sich auf die Ellenbogen stützte. Seine Atmung war wieder normal. Er blinzelte und blickte sich um. Er kam zu sich.
»Oh mein Gott.« Em drehte sich erstaunt um und wollte Ty fragen, was passiert war. Doch sie waren fort. Alle drei waren sie verschwunden.
Em hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn JD stöhnte wieder. Sie ging zu ihm hin und kniete sich neben ihn. Er versuchte, sich aufzurichten, sackte jedoch wieder zurück auf den Boden.
»Schon gut«, sagte sie und beugte sich über ihn, eine Hand auf seiner Brust, die andere in seinen Haaren. »Ich bin ja hier.«
Und dennoch hatte sie das seltsame Gefühl, gleichzeitig auch irgendwo anders zu sein. Die Luft, die sie umgab, war schwerer als sonst – irgendwie stickig und verbrannt.
Dann lag JDs Hand auf ihrer und er erkundigte sich, was passiert war. Em blickte ihn weinend an und bat ihn um Verzeihung.
»Jetzt ist es vorbei«, flüsterte sie. »Es tut mir so leid, JD. Es tut mir ja so leid.«
Kapitel 26
Zwei Wochen später
Gabbys Mom sagte einen milden, schneefreien Frühling voraus.
Der Winter war dieses Jahr so schnell und heftig hereingebrochen: Als ob da noch etwas anderes in der Luft gelegen hätte, pflegte Marty Dove gern zu sagen. Nicht etwa, dass der Januar nicht kalt gewesen wäre – das war er –, aber …
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