Rache an Johnny Fry
nach ihr aus.
»Einen Kuss«, sagte er wie ein kleiner Junge zu seiner Mutter.
Sie gab ihm einen laut schmatzenden Kuss auf die Lippen und setzte sich zu seinen Füßen auf den Boden, um ihm die Schuhe auszuziehen.
»Ich komme schon mit ihm zurecht«, erklärte sie mir.
»Okay«, sagte ich.
Als ich zur Tür hinausging, rief sie mir hinterher: »Denk dran, wir gehen bald essen.«
Ich hatte gehofft, sie hätte es vergessen. Ich hatte genug von Frauen und Sex. Aber ich nickte und winkte, dann schloss ich die Tür.
In meiner Wohnung angekommen, begann ich einen Roman zu lesen, der schon seit Jahren auf meinem Regal lag. Er hieß Der Nachtmann und handelte von einem Vampir, einem Mann, der niemals bei Tag sein Haus verließ, der die Dunkelheit liebte und die Sonne und auch sonst alles scheute, was das Tageslicht hervorbrachte. Es war eine tragische Liebesgeschichte. Der Held, Juvenal Nyx, lernte eine Frau kennen, die ein Wesen des Lichts war. Er traf sie auf einer Brücke, von der sie sich in den Tod stürzen wollte, weil sie ihr Kind verloren hatte. Ihr Mann warf ihr vor, unachtsam gewesen zu sein, und sie nahm die Schuld auf sich, obwohl diese Selbstbezichtigung möglicherweise nicht gerechtfertigt war.
Seit Monaten hatte ich keinen Roman mehr gelesen. So viel meiner Zeit war ausgefüllt mit dem Übersetzen von Handbüchern, Geschäftsformularen und juristischen Dokumenten, dass ich nach getaner Arbeit nur noch fernsehen wollte.
Aber nicht an diesem Abend.
Ich hatte Angst, meinen Fernseher einzuschalten. Da ich geradezu versessen auf die Sisypha-Sage war, würde ich mit Sicherheit früher oder später wieder die DVD einlegen, und ich wollte endlich abkühlen, mich von meiner schmerzvollen Fixierung auf diese Art strafenden Sex befreien.
Die Liebesgeschichte in Der Nachtmann, so melodramatisch sie war, fesselte mich für Stunden. Es muss bereits nach eins gewesen sein, als es an meiner Tür klopfte.
Es war kein normales Klopfen, und ich wusste gleich, wer draußen stand – wenigstens glaubte ich es zu wissen. Mir war die Logik vertraut, die sie zu mir führte. Sashas Bruder war eingeschlafen, und sie dachte an mich, weil wir uns kurz zuvor getroffen hatten. Sie wollte zu mir und mit mir vögeln, bis zum Morgengrauen. Davon war ich überzeugt.
Rückblickend komme ich mir ungeheuer arrogant vor. Ich war kein Sexidol, die Frauen lagen mir nicht zu Füßen. Ich war nichts als ein Kerl in seinen mittleren Lebensjahren, der die normalen Traumata seiner Generation und Spezies durchlebte.
Erst dachte ich, ich könnte so tun, als schliefe ich oder sei gar nicht da. Ich würde einfach nicht antworten, und sie ginge wieder.
Aber das Klopfen war äußerst hartnäckig, und ich begann mich über mein Verhalten zu ärgern. Warum konnte ich nicht einfach aufmachen? Selbst wenn sie mit mir ins Bett wollte – ich musste doch nicht darauf eingehen. Ich konnte ihr erklären, dass ich wieder mit meiner Freundin zusammen wäre und Sex mich im Moment nicht interessierte.
Ich ging also und machte auf, ohne zu fragen, wer draußen stand. Dass es Enoch Bennett war, überraschte mich sehr. Er trug lediglich seine graue Anzughose mit herunterhängenden Hosenträgern und seinen linken schwarzen Schuh, ohne Socke.
Sein Gesicht war zunächst ausdruckslos, aber als er mich ansah, fing er an zu heulen. Er fiel nach vorn, und ich packte und hielt ihn wie einen Boxer, der nur noch in die Arme seines Gegners fliehen kann.
»Was ist los?«, fragte ich ihn.
Er versuchte zu antworten, brachte aber nur einzelne Silben heraus, die sich nicht zu Wörtern formen wollten.
Ich half ihm zu meinem Sofa und brachte ihn in eine aufrechte Sitzhaltung, aber er fiel sofort zur Seite und hörte gar nicht mehr auf zu heulen. Als ich mich neben ihn setzte, griff er nach meinen Händen und drückte sie sich aufs Gesicht.
In mir wuchs die Furcht, dass da oben etwas Furchtbares passiert war. Sasha hatte Enochs Leben zerstört, indem sie die Eltern veranlasst hatte, sich zu trennen. Damals war er noch ein Kind gewesen. Vielleicht hatte er sich in seinem trunkenen Stumpfsinn nun an seiner Schwester gerächt und sie umgebracht. Ganz sicher war sein Zustand alles andere als normal. Warum sonst trieb es ihn in die Wohnung eines Fremden?
Ich suchte seine Hände und die zerknitterte Hose nach Blutspuren ab, aber da war nichts. Er hatte lediglich ein paar nasse Flecken auf der Hose.
»Was ist passiert?«, fragte ich noch einmal, als er sich etwas
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