Rache an Johnny Fry
beruhigte.
Hastig nach Luft schnappend wie ein Schwimmer, setzte sich Enoch auf.
»Ich habe Sasha jahrelang nicht gesehen«, sagte er, und seine Lippen zitterten, als wollte er gleich wieder losheulen.
»Mein Therapeut meinte, es sei an der Zeit, mich mit ihr auszusprechen. Ihr… ihr zu sagen, was ich fühle.«
»Worüber?«
»Erst ging es gut. Sie schien sich über meinen Besuch zu freuen. Ich redete mit ihr, und sie, sie entschuldigte sich. Sie sagte, unsere Mutter sei schuld, sie habe ihr sehr wehgetan.
Es war genauso, wie es mein Therapeut vorhergesagt hatte. Wir redeten, und dann, dann wurde ich wütend und schrie sie an und sagte ihr, dass ich sie manchmal hasse.«
Ich war mittlerweile sicher, dass Sasha tot oben in ihrer Wohnung lag. Ich überlegte, wann ich die Polizei rufen sollte. Enoch war größer als ich und wahrscheinlich stärker, auf jeden Fall aber jünger. Ich wollte keine körperliche Auseinandersetzung mit ihm riskieren.
Da fiel mir die halbe Flasche Cognac ein, die ich noch hatte.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte ich und stand auf. Wenn ich ihn etwas betrunkener machen konnte, musste es möglich sein, ihn in die Toilette zu sperren und die Tür mit einem Stuhl zu verbarrikadieren. Dann konnte ich die Polizei rufen.
Aber Enoch fasste meinen Arm und hielt mich fest.
»Zur Feier des Tages haben wir uns betrunken«, sagte er. »Sind durch die Kneipen gezogen, und dann, dann war ich oben. Meine Finger waren in ihr, und sie war…. sie hatte meinen Schwanz im Mund. Ich schob sie weg und sagte, nein, nicht wieder. Aber sie streckte mir nur die Arme entgegen. Sie sagte kein Wort, doch ich wusste, was sie dachte. Sie dachte, dass ich sie wollte, mehr als alles andere. Und es stimmte. Ich warf mich auf sie. Und… und als ich aufwachte, lag sie neben mir, und das Zimmer roch nach Sex.«
Sein Geständnis amüsierte mich. Eben noch war in meiner Vorstellung ein Mord begangen worden. Jetzt war es ein einfacher Fall von Inzest zwischen zwei Erwachsenen. Ein Bruder und eine Schwester hatten, betrunken, wie sie waren, miteinander geschlafen. Vielleicht hätte sie irgendein Gericht verurteilt und einsperren lassen. Vielleicht gab es Länder, in denen man sie für ihr Vergehen hingerichtet hätte. Vielleicht hätte ich auf das Geständnis des fassungslosen jungen Mannes reagieren sollen, als wären die letzten Tage nicht voller Sex und Verderbtheit gewesen. Aber ich empfand nur Erleichterung. Sasha war oben und schlief ihren Rausch aus, und Enoch lag heulend auf meinem Sofa.
»Trinken Sie einen Schluck«, sagte ich. »Dann fühlen Sie sich besser, und morgen früh haben Sie ausreichend Abstand zu dem, was passiert ist.«
Er heulte erneut los, aber als ich ihm ein Glas Cognac eingoss, trank er es mit drei Schlucken aus. Ich schenkte ihm nach. Er schaffte es nur noch zur Hälfte und fiel besinnungslos aufs Sofa.
Er lag nicht auf dem Rücken, und so machte ich mir keine Sorgen, dass er im Schlaf ersticken könnte. Ich deckte ihn zu, ging in mein Zimmer, machte das Licht aus und lag in der Dunkelheit.
Der Schlaf, auf den ich gehofft hatte, wollte nicht kommen. In der Düsternis sah ich riesige Eisberge, die sich um mich herum auftürmten. Ich wusste, dass ich in meinem eigenen Bett lag und keine Gefahr drohte, dennoch hatte ich Angst. Ich war arbeitslos, und meine Freundin benutzte mich wie eine Puppe. Ich hatte mit einer Frau geschlafen, die kaum dem Kindesalter entwachsen war, und gierte wie besessen nach der Heldin eines Pornos.
Es stimmte. Ich hatte einen beträchtlichen Teil der letzten Tage damit zugebracht, über Sisypha und ihre Motive nachzudenken. Warum quälte sie ihren Mann mit so viel Liebe in der Stimme und den Augen? Welche Lektion wollte sie ihm erteilen? Warum hatte Sasha ihren Bruder verführt? Warum hatte Joelle mich genau das tun lassen, was Johnny Fry mit ihr gemacht hatte?
Ein Schauer ergriff mich. Arme und Beine begannen zu zittern wie kleine Tiere bei einem Unwetter. In diesem Augenblick war ich geschlechtslos. Mein Mannsein war mir genommen, und alles, was mir blieb, war die Gewissheit, dass ich auf eine Tragödie zusteuerte: meinen Tod. Ich würde bald sterben. Jemand würde mich umbringen, oder vielleicht tötete ich mich auch selbst.
Von Panik erfasst, schrak ich hoch.
Ich griff wie automatisch nach dem Telefon und wollte Joelle anrufen. Sie hatte mir immer geholfen, wenn ich mit meinen unbegründeten Ängsten bei ihr Rat suchte. Sie war so vernünftig.
Einmal
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