Rache an Johnny Fry
Melancholie verfällt«, sagte sie. Es klang so, als hätte sie diesen Vortrag schon sehr oft gehalten. »Die Menschen wurden dicker, bewegten sich kaum noch und sorgten sich mehr um die Leute in den Fernsehshows als um die Millionen, die jedes Jahr verhungern oder in Kriegen umkommen. Der Mann hatte das Gefühl, dass die Menschen nicht merkten, oder fast nicht merkten, wie sie von Tag zu Tag immer trauriger wurden.
Er wusste, dass er diesen Zustand nicht ohne Weiteres ändern konnte. Er wusste, dass selbst sein gewaltiges Vermögen nicht ausreichte, um dieser Melancholie Einhalt zu gebieten. Dennoch beschloss er zu tun, was in seiner Macht stand. Er beauftragte ein psychologisches Institut, Hunderte von Leuten aufzutreiben, die Verständnis und Sorge für Menschen mit Problemen aufbrachten. Keine Psychologen oder professionellen Berater, sondern ganz gewöhnliche Leute, denen ihre Mitmenschen nicht egal waren.
Mit ihnen besetzte er diese Hotline, damit Menschen anrufen konnten, nicht unbedingt, wenn sie in akuter Not waren, sondern wenn sie einen Freund brauchten, mit dem sie reden konnten.«
»Du machst Witze«, sagte ich. Ich hielt den großen Zeh meines linken Fußes in der rechten Hand, genau wie ich es als Kind getan hatte.
»Nein«, sagte Cynthia, »ganz bestimmt nicht. Und deshalb rate ich dir genau das, was ich für richtig halte, zum Beispiel, mit deiner Familie zu reden.«
»Wow«, sagte ich. Ich drehte mich auf die Seite. »Wie viel Zeit habe ich?«
»So viel du willst, Cordell. Aber du wolltest mir von deiner Familie erzählen.«
»Mein Bruder ist in der Army«, sagte ich. »Bei einer Spezialeinheit. Er ist ständig irgendwo im Ausland, um Leute umzubringen, oder zeigt anderen, wie man es macht. Wir haben seit sieben Jahren nicht miteinander gesprochen. Im Gegensatz zu mir glaubt er, dass Amerika tolle Dinge tut. Nein…. ich bin politisch nicht aktiv. Ich gehe nicht mal wählen. Ich bin nur der Ansicht, dass sich die Regierung einen Dreck um die normalen Leute kümmert.
Und meine Schwester und ich, wir haben einfach nicht dieselbe Wellenlänge. Sie war wütend auf mich, weil ich meine Ehen nicht in Gang bekommen habe. Sie ist verheiratet, lebt in Utah und hat sehr wenig Zeit für alles, was nichts mit ihren Kindern oder ihrer Kirche zu tun hat.
Ja, und meine Mutter lebt in Connecticut, in einer Seniorenresidenz. Sie kommt noch ganz gut allein zurecht, aber sie will über nichts Wichtiges reden. Wenn ich auf etwas zu sprechen komme, das ihr unangenehm ist, gerät sie durcheinander und redet nur noch von früher, als Eric, Phoebe und ich Kinder waren.«
»Was ist mit deinem Vater?«, fragte Cynthia.
»Der ist tot.«
»Unsere Eltern begleiten uns durch unser ganzes Leben«, sagte sie. »Dein Vater ist bei dir, bis du stirbst. Was würde er dir raten, wenn du ihm von deiner Freundin und ihrem Liebhaber erzähltest?«
Cynthias Fragen erschöpften mich. Ich gähnte und zog mir das Kissen unter den Kopf.
»Ich bin plötzlich furchtbar müde, Cynthia«, sagte ich. »Ich kann die Augen kaum offen halten. Mit dir zu sprechen hat mich entspannt. Vielen Dank, aber ich glaube, ich muss auflegen.«
»Wenn du wieder mit mir reden möchtest, wähle dieselbe Nummer nur mit Vieren statt der Dreien am Ende«, sagte sie. »Dann wirst du nach meinem Code gefragt – buchstabiere einfach meinen Namen: Cynthia. C-Y-N-T-H-I-A.«
Ich nickte und legte auf.
Ich muss gleich eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte, schien die Morgensonne in mein offenes Fenster. Ich nahm an, dass Enoch und Cynthia Produkte meiner Träume waren.
Als ich jedoch aufstand und ins Wohnzimmer stapfte, stellte ich fest, dass die Erinnerungen an die Nacht der Wirklichkeit entsprachen. Enoch lag noch genauso da, wie ich ihn zurückgelassen hatte, und ich selbst trug noch meine Sachen vom Vortag.
Ich duschte, rasierte mich und kochte eine Kanne starken Kaffee. Gerade als ich mir die erste Tasse einschenkte, kam Enoch in die Küche. Um die Schultern trug er die kamelhaarfarbene Kaschmirdecke, mit der ich ihn zugedeckt hatte.
»Guten Morgen«, sagte er mit einem unsicheren blassen Lächeln.
»Hallo. Wieder unter den Lebenden?«
»Wie bin ich hergekommen?«, fragte er.
»Sie sind letzte Nacht heruntergekommen und haben geklopft.«
»Ich muss fürchterlich betrunken gewesen sein.«
»Oh ja«, sagte ich lächelnd. »Ich habe kein Wort von dem verstanden, was Sie sagen wollten. Und dann sind Sie eingeschlafen.«
»Habe ich irgendwas
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