Rache an Johnny Fry
Zusammenhängendes gesagt?«, fragte er und starrte mich an.
»Nein. Wollen Sie einen Kaffee?«
»Wo leben Sie?« , fragte ich Enoch Bennett.
Er saß an dem kleinen Tisch neben der Spülmaschine in meiner Küche. Es war 6.36 Uhr.
»Ich lebe in L. A. bei meiner Mom«, sagte er. »Ich will bald ausziehen, aber die Mieten sind sehr hoch, und man muss aufpassen, in welche Gegend man zieht.«
Sasha hatte gesagt, er sei dreißig.
»Hatten Sie ein schönes Wochenende in New York?«, fragte ich.
»Ja. Mir gefällt es hier total gut. Aber New York ist noch teurer als L. A.«
Er schien gleich losheulen zu wollen.
»Das können Sie laut sagen. Ich komme aus San Francisco und würde auch wieder dorthin zurückgehen, aber ich bin vor so langer Zeit hergekommen, dass ich mir nicht mal mehr vorstellen kann, woanders zu leben.«
Er lächelte, die Augen tränennass.
In dem Moment klopfte es an der Tür.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte ich und stand auf, um nachzusehen, wer da war.
Enoch seufzte, froh, wie ich annahm, für einen Moment mit seiner Verzweiflung allein zu sein.
Draußen stand Sasha. Sie trug nichts als ein Spitzennachthemd, das ihr bis zu den Knien reichte und einen großzügigen Ausschnitt hatte.
»Ist er bei dir?«, fragte sie. Ihre Stimme klang flach.
»Ja«, sagte ich. »Er klopfte, heulte ein paar Minuten und schlief dann auf meinem Sofa ein. Er war wie bewusstlos.«
»Was hat er gesagt?«
»Ich habe kein Wort verstanden.«
»Gar nichts?«
»Nein. Die meiste Zeit hat er geheult, und was er sagte, ergab weder auf Englisch noch auf Französisch oder Spanisch einen Sinn.«
Meine humorvolle Anmerkung brachte ein Lächeln auf Sashas Gesicht.
»Sasha?« Enoch stand hinter mir im Flur.
»Was ist passiert, Inch?«
Statt etwas zu sagen, lief er zu ihr und schlang seine Arme um ihren Hals. Er weinte so wie nachts schon. Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn an sich, während er heulte und schluchzte. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Für sie war es offensichtlich nur Teil eines sehr komplexen Spiels.
Nach einer Weile klopfte sie ihm auf die Schulter und sagte: »Ist ja gut, Junge. Ist ja gut.«
Ihre Brauen hoben sich leicht beunruhigt, weil er sich so kindisch verhielt.
»Danke, dass du dich um ihn gekümmert hast, Cordell«, sagte sie. »Inch kriegt manchmal einen Moralischen, wenn er trinkt.«
»Kein Problem«, sagte ich.
»Komm jetzt, Schatz«, sagte sie zu ihrem Bruder. »Gehen wir nach oben.«
Einen Moment lang sträubte sich Enoch. Er sah mich an, und in seinen Augen lag echte Angst.
»Komm schon«, sagte Sasha. »Cordell muss sich um seine eigenen Sachen kümmern.«
»Ja«, sagte Enoch und sah mich immer noch an. Endlich wandte er sich ab, und ich schloss die Tür hinter den beiden.
Ich holte tief Luft und erschauderte beim Ausatmen. Eine solche Leidenschaft zwischen Bruder und Schwester war finster und bodenlos. Die Probleme, die ich mit meinen Geschwistern hatte, waren nichts dagegen.
Ich räumte das Wohnzimmer auf , öffnete die Fenster und notierte Cynthias Namen und die Nummer, unter der ich sie erreichen würde. Sie schien sich um mich zu sorgen. Die Erinnerung an unser Gespräch wirkte beschwichtigend auf die sexuelle Anspannung, die ich einfach nicht loswurde, seit ich Jo mit Johnny Fry gesehen hatte. Selbst die Erinnerung an ihre Hemmungslosigkeit ließ mich im Moment vergleichsweise kalt.
Vielleicht, dachte ich, konnte ich jetzt endlich von Jo loskommen. Jetzt, wo ich Cynthia hatte.
Ich fragte mich, wie meine professionelle Telefonfreundin aussah. War sie groß? Hübsch? Eine Asiatin? Aber dann begriff ich und war froh darüber, dass das völlig unwichtig war. Cynthia war ein idealer Freund, jemand, der sich um meiner selbst willen um mich sorgte. Das Geld, das ich dafür bezahlte, spielte keine Rolle. Das war eine Spende für einen wohltätigen Zweck, für den Kampf gegen Einsamkeit und Melancholie.
Cynthia war meine Sozialtherapeutin, so sah ich es. Wann immer ich sie brauchte, würde sie zur Stelle sein und sich nach meinem Befinden erkundigen, nach meiner Familie.
Mit diesen beruhigenden Gedanken im Kopf legte ich mich aufs Bett und schlief für Stunden, ohne Sorge um Sasha und Enoch, Jo und Johnny, Lucy und Billy. Ich dachte nicht einmal an Sisypha und Mel.
Ich war ein einsames Floß auf einem Meer der Bewusstlosigkeit. Ich hatte kein Ziel und kam nirgend wo her. Ich hatte keine Arbeit und keine Freundin, hatte keine Termine und keine Chefs, die mir
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