Rache auf leisen Pfoten
geglaubt, wir würden glücklich sein bis ans Ende aller Tage. Dachte nie an – hm – alltägliche Dinge. Mir kam nicht mal in den Sinn, dass Rechnungen bezahlt werden mussten. Ich nahm an, ich würde von der Luft leben.« Sie hielt am Straßenrand, schaltete die Blinklichter ein, zog den Lappen, mit dem sie immer die Windschutzscheibe putzte, unter dem Sitz hervor, wischte sich die Augen und schnäuzte sich. »Stinkt nach Öl. Hab ihn wohl benutzt, um den Ölstand zu prüfen. Zu dumm, ihn wieder in die Fahrerkabine zu legen.« Sie schloss die Augen. Vom Heulen um die vergangene Jugend hatte sie Kopfschmerzen bekommen.
»Wir lieben dich.« Tucker sprach für alle drei.
»Ich hab euch lieb, Kinder«, antwortete sie, dann heulte sie wieder los. Wie so viele Menschen hatte sie das Gefühl, dass einem die einzig wahre Liebe von seinen Haustieren entgegengebracht wird. »Ich liebe Fair, aber ist das echt? Oder sind es nur die Erinnerungen an früher? Dieses Ehemaligentreffen ist die Hölle.«
Mrs Murphy versuchte es vernünftig zu sehen. »Das wird sich mit der Zeit zeigen. Ob ihr zwei zusammen sein könnt, werdet ihr merken, wenn ihr es schön langsam angeht. Was eure Feier betrifft, wie sollte sich da einer nicht grässlich fühlen?«
»Ein Verrückter«, sagte Pewter. »Jemand, der sich jetzt sehr mächtig vorkommt.«
Tucker stupste Harry mit der Schnauze. »Mom, es ist das Ehemaligentreffen. Es wühlt Gefühle auf, gute und böse.«
Harry schnäuzte sich noch einmal, legte einen Gang ein und fuhr weiter. »Auf der Highschool dachte ich vermutlich, dass Unglück nur andere trifft, nicht mich. Da war ich schief gewickelt.« Sie lachte wehmütig. »Aber wisst ihr, Kinder, die Liebe ist so rein, wenn man jung ist. Sie kommt nie wieder. Man mag sich wohl wieder verlieben, und es mag eine klügere und bessere Liebe sein, aber nie mehr jene reine, unkomplizierte Liebe.«
»Die Menschen machen sich zu viele Gedanken um die Zeit«, bemerkte Pewter. »Sie können wohl nicht anders. Sie haben Wanduhren und Armbanduhren und Steuertermine. Mich würde das rasend machen.«
»Hat ihnen kein bisschen genützt.« Tucker schmiegte sich an Harry und sah aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden vertrauten kleinen Häuser und größeren Farmen.
Mrs Murphy saß auf der Rückenlehne. Von hier hatte sie einen erhabeneren Ausblick.
»Ich sehe mir alle Leute auf dem Ehemaligentreffen an und frage mich, was mit ihnen passiert ist. Wie sind wir so schnell hier angelangt? Mit einem Mörder in unserer Mitte. Unsere Klasse? Ich habe irgendwo gelesen, ich weiß nicht mehr, wo: ›Die Zeit siegt über die Zeit‹ – vielleicht stimmt es ja. Vielleicht kommt einmal die Zeit, wo ich alles ganz entspannt sehe. Oder ich mich seelisch oder sogar körperlich noch mal aufraffe und runderneuere.«
»Mom, du hast die Abbiegung verpasst!« Tucker führte sich auf wie eine besserwisserische Beifahrerin.
»Sie versucht, ihren Kopf klar zu kriegen. Immer, wenn sie ihr Inneres aufräumen muss, kurvt sie in der Gegend herum. Dass sie in dem Dually rumkurvt, sagt was aus.« Mrs Murphy hatte nichts dagegen; sie schätzte die Plüschpolsterung mit dem Schaffell darüber. »Sie musste in diesem neuen Transporter bei ihrem Ehemaligentreffen aufkreuzen. Komisch, nicht? Der Wunsch zu glänzen.«
Das warme Herbstlicht ließ die roten Scheunen noch dunkler, die lodernden Ahornbäume noch strahlender erscheinen.
Harry liebte die Jahreszeiten, hatte sie aber nie – eine abgedroschene, aber wirkungsvolle Metapher – auf ihr eigenes Leben bezogen. »Wisst ihr, was wirklich komisch ist? Kein Mensch glaubt, dass er mal alt wird. Irgendwann muss man es dann wohl akzeptieren, wie Mrs Hogendobber.« Sie überlegte kurz. »Mim hat es nicht akzeptiert. Und sie ist genauso alt wie Miranda.« Sie wurde gesprächiger. Die Fahrt munterte sie auf. »Also, das versteh ich nicht. Zuerst bringt jemand Männer aus der Klasse von ’80 um. Jemand führt wahrhaftig einen Racheplan aus. Ich war manchmal so wütend, dass ich jemanden hätte umbringen können, aber ich hab’s nicht getan. Was wirft einen Menschen aus der Bahn? Und dann denke ich an den Tod. Der Tod ist da draußen, ein Schattenwesen, ein gefürchteter Bekannter. Er erwischt einen bei einem Verkehrsunfall oder durch Krebs. Aus Absicht oder Zufall. Aber er ist seltsam unpersönlich. Das ist es, was mich an dieser Geschichte so fertigmacht. Sie ist grausam persönlich.«
43
Harry war kaum in der Küche, als
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