'Rache'-Box: Rachezug, Rachegier und Rachetrieb (German Edition)
Vielmehr verbrachte sie ihre Freizeit damit, diverse Klassiker der deutschen Literatur zu verschlingen. Jeden Tag setzte sie sich für mehrere Stunden in ihren Sessel und studierte Goethes Faust , Schillers Wallenstein oder Lessings Emilia Galotti.
Doch heute würde es anders sein. An diesem deprimierenden Novembertag würde sie keines ihrer Lieblingsbücher auch nur in die Hand nehmen. Für heute hatte sie etwas anderes geplant. Und dieses Vorhaben würde sie kompromisslos in die Tat umsetzen.
Komme, was wolle.
Obgleich Melanie aufgrund der Kälte am ganzen Körper zu zittern begann, machte sie keinerlei Anstalten, ihre Heizung aufzudrehen. Selbst der Wolldecke, die in unmittelbarer Nähe vor ihr lag, schenkte sie keine Beachtung. In einen dünnen Mantel und eine lange schwarze Stoffhose gehüllt, verweilte sie in ihrem Sessel und starrte in den wolkenverhangenen Novemberhimmel hinaus. Bei diesem Anblick schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sich nicht nur ihre abgestorbenen Pflanzen, sondern auch das Wetter perfekt mit ihrem Leben vergleichen ließ:
Es war kalt, grau und über die Maßen trostlos.
Nach einigen Minuten nahm Melanie ihre Nickelbrille ab und öffnete den Zopf, der ihre feuerroten Haare zusammenhielt. Dann fuhr sie sich mit ihren Fingern wiederholt durch das Gesicht. Ungemein viele Sommersprossen zierten ihre Wangen und ihre schmalen Lippen harmonierten in keiner Weise mit den buschigen Augenbrauen.
Als Melanie ihre Hände kurz darauf auf ihren umfangreichen Bauch legte, stellte sie einmal mehr fest, dass sie sich in den vergangenen Jahren sehr hatte gehen lassen. Sie hatte sich kaum noch um ihren eigenen Körper gekümmert, beim besten Willen keinen Sinn mehr in ihrem jämmerlichen Leben gesehen: Vom festen Freund betrogen, von der besten Freundin hintergangen und vom Arbeitgeber gefeuert.
Welchen Sinn hat das Ganze also noch? Ich bin 42 Jahre alt, aber habe nichts in meinem Leben erreicht! Ich habe keinen Mann, keine Kinder, keine Freunde! Ich habe versagt. Auf ganzer Linie. Folglich gibt es nur noch einen Ausweg aus dieser Misere. Und heute fühle ich mich endlich stark genug, um diesen Weg auch zu beschreiten.
Melanie hievte ihre einhundert Kilogramm aus dem Sessel und schleppte sich hinüber zur Balkontür. Ohne lange zu zögern griff sie nach deren Klinke, zog die Tür auf und trat in die Novemberluft hinaus. Das Thermometer an der Wand rechts von ihr stand gerade einmal auf zwei Grad Celsius, weshalb Melanie auf Anhieb noch stärker zu zittern begann. Doch das machte ihr nichts aus. Es kümmerte sie nicht im Geringsten.
Denn es spielt keine Rolle mehr.
Der Balkon befand sich im neunten Stock eines Hochhauses in Weende an der Hannoverschen Straße . Seit über sechs Jahren hauste Melanie dort in ihrer winzigen Wohnung. Und sie war froh, endlich die nötige Energie zu verspüren, um ihrem Gefängnis in wenigen Sekunden für immer zu entfliehen.
Während Melanie auf die Theodor-Heuss-Straße blickte, die dreißig Meter weiter östlich verlief, stieg sie mit dem rechten Fuß auf einen Holzstuhl. Daraufhin zog sie das linke Bein nach und beförderte sich auf die Balkonwand. Ihr Atem beschleunigte sich ebenso wenig wie ihr Puls, als sie ihr Gleichgewicht ausbalancierte.
In ihren Träumen hatte Melanie diesen Moment schon unzählige Male erlebt. Sie hatte ihn so oft ausgekostet. Doch all diese Visionen kamen nicht annähernd gegen das Freiheitsgefühl an, das sie in diesem Augenblick verspürte. Endlich war die Zeit gekommen, ihren geliebten Traum in der verhassten Realität auszuleben. Und so paradox diese Situation auch erschien, sie ließ Melanie in ihrem Inneren geradezu frohlocken. Dies war ihre Stunde. Dies war ihr Moment. Niemand konnte ihn ihr nehmen.
Niemand kann mich mehr aufhalten!
Für Melanie stellte der Tod ihre Erlösung dar. Die Erlösung aus einem Leben voller Enttäuschung, Trauer und Wut. Aus diesem Grund schloss sie jetzt ihre Augen, sog die Luft tief in ihre Lungen ein und breitete die Arme aus.
Im nächsten Moment stürzte sie lächelnd in die Tiefe.
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9. Dezember 2011
Ich werde töten. Und ich werde es genießen. Fünf Menschen stehen auf meiner Schwarzen Liste. Jeder einzelne hat den Tod verdient.
Es waren diese Sätze, die dem Mörder unentwegt durch den Kopf rauschten. Immer wieder hörte er sie, während er seinen Suzuki Richtung Weende navigierte. Er malte sich seinen ersten Mord schon sehnsüchtig in Gedanken aus, sah den entscheidenden Moment ganz
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