'Rache'-Box: Rachezug, Rachegier und Rachetrieb (German Edition)
zeigte.
„Oh!“, stieß der 55-Jährige überrascht aus. „Nun, Herr Sattler hat sein Büro im vierten Stock. Wenn Sie einen der Fahrstühle nehmen, dann liegt sein Büro auf der rechten Seite des Flurs. Sie können es gar nicht verfehlen.“
Nora schielte auf das Namensschild des Pförtners und entzifferte auf diesem: Gäntner.
„Vielen Dank, Herr Gäntner.“ Sie nickte ihm zu und begab sich anschließend mit Thomas zu den Fahrstühlen. Dabei entging ihrem Blick nicht, dass eine statische Videokamera in der rechten Ecke über den Fahrstühlen hing und den Großteil der Eingangshalle überwachte.
Bettina Lichter tippte im Zehnfingersystem auf der Tastatur ihres Bürocomputers. Ihre Finger flogen regelrecht über die Tasten, während ihr Blick von dem handschriftlichen Bericht, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag, zum Computerbildschirm und wieder zurück wanderte. Pro Minute schaffte die 41-Jährige vierhundert Anschläge, und nur äußerst selten unterlief ihr dabei ein Tippfehler.
Obgleich Bettina in der Regel eher helle Farben bevorzugte, trug sie heute eine dunkelgrüne Bluse zu einer braunen Stoffhose. Ihre Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden. Die kugelrunde Brille saß weit vorne auf ihrer Nasenspitze.
Gerade als sie am letzten Absatz des aktuellen Berichts anlangte, trat Bernd Sattler aus seinem angrenzenden Büro. Mit zwei großen Schritten stand er vor Bettinas Schreibtisch und faltete die Hände vor seinem Bauch. Wie gewöhnlich trug er einen piekfeinen Nadelstreifenanzug.
„Haben Sie den Bericht schon verfasst, Frau Lichter?“
„Ich bin in zwei Minuten damit fertig“, garantierte Bettina ihm mit einem entschuldigenden Blick. „Der PC hatte sich vor einigen Minuten aufgehängt und ich hatte keine Back-Up-Datei angelegt. Daher musste ich mit dem gesamten Text noch einmal von vorne anfangen. Aber spätestens in zwei Minuten ist er abgetippt und ausgedruckt. Versprochen.“
Da Sattler sie nach diesen Worten streng musterte, befürchtete Bettina für einen kurzen Moment, dass er sie nun ordentlich zusammenstauchen würde. Das wäre schließlich nicht das erste Mal in ihrer bisher sechsjährigen Zusammenarbeit gewesen. Doch überraschenderweise tat er das nicht. Stattdessen lächelte er sie an und verkündete: „Das ist kein Problem. Dieser Bericht hat schließlich nicht die oberste Dringlichkeitsstufe. Dennoch erwarte ich ihn fehlerfrei auf meinem Schreibtisch, wenn ich in ein paar Minuten wieder hier bin. Das bekommen Sie doch hin, nicht wahr, Frau Lichter?“
Trotz ihres engen Arbeitsverhältnisses war es Sattler nie in den Sinn gekommen, seine Sekretärin beim Vornamen zu nennen. Schließlich war er davon überzeugt, dass eine distanzierte Beziehung der Schlüssel zu einer erfolgreichen beruflichen Partnerschaft war. In seinen Augen führte ein gewisser Grad an Vertrautheit bereits zu einem enormen Verlust an Achtung und Respekt. Das wollte er unter allen Umständen vermeiden. Seine Autorität war ihm heilig. Diese Überzeugung basierte auf der jahrelangen Erfahrung, auf die er mit seinen 54 Jahren bereits zurückblicken konnte.
Bettina sagte dankbar: „Der Bericht wird auf jeden Fall fertig sein, wenn Sie zurück sind, Herr Sattler. Verlassen Sie sich auf mich.“
Sattler nickte, ehe er sich mit der rechten Hand an der Schreibtischplatte abstützte und aus dem Fenster hinter Bettina schaute. Ihm bot sich eine freie Sicht auf die Weender-Landstraße , die vier Stockwerke unter ihm lag. Derzeit herrschte so wenig Verkehr auf der Straße, dass sie langsam aber sicher von einer dünnen Schneeschicht überzogen wurde.
„Da muss man wieder äußerst vorsichtig fahren. Besonders wenn es über Nacht gefriert“, sagte der Anwalt mehr zu sich selbst als zu seiner Sekretärin. Dann machte er kehrt und ging zur Zimmertür. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, trat er aus dem Büro, schloss die Tür hinter sich und ließ Bettina mit ihrem Bericht alleine.
Kaum war ihr Chef verschwunden, da zog sie die unterste Schreibtischschublade auf und schmuggelte eine Tafel Schokolade hervor. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schob sich das erste Stückchen in den Mund. Dieses Ritual ließ sie sich von niemandem nehmen. Jeden Morgen um dieselbe Zeit brauchte sie ein Stück Schoko, um ihre vibrierenden Nerven zu beruhigen. Zwar kam sie im Allgemeinen gut mit ihrem Vorgesetzten aus, doch hin und wieder konnte er sehr aufbrausend werden. Daher hatte Bettina bereits vor einigen Jahren ihren
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