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Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)

Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)

Titel: Rache verjährt nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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aufgewachsen war, wo sein Vater Oberforstwart auf den Ländereien seines Schwiegervaters Sir Leon Ulphingstone gewesen war. Da taten sich reichlich faszinierende Möglichkeiten auf. Vielleicht verriet die nahezu idealisierte Gestalt in dem Gemälde an seiner Zellenwand etwas über seine Beziehung zum Vater. Oder vielleicht erinnerte sie ihn daran, wer er einmal gewesen und wer er jetzt war.
    Mit der Hilfe einer kunstbeflissenen Freundin identifizierte Alva den Maler als den Amerikaner Winslow Homer. Das Gemälde hieß The Woodcutter . Sie fand das Bild im Internet, zusammen mit einem alten Katalogtext.
    In Winslow Homers Gemälde blickt der Holzfäller über ein Panorama aus Bergen und Seen und unberührten Wäldern. Er ist groß und muskulös und verströmt das jugendliche Selbstvertrauen, dass für ihn kein Gipfel zu hoch ist, um ihn zu bezwingen, kein Fluss zu breit, um ihn zu überqueren, und kein Baum zu stark, um ihn zu fällen. Das Land, das er vor sich sieht, wartet darauf, von ihm gestaltet zu werden, und er wird es sich unterwerfen, oder bei dem Versuch sterben.
    Sie konnte nachvollziehen, was der Verfasser meinte. Und natürlich hatte Haddas Unternehmen Woodcutter Enterprises geheißen. Bedeutsam?
    Alles ist bedeutsam, hatte ihr Tutor oft und gerne gesagt. Man kann gar nicht zu viel wissen.
    Ich bin allerdings noch sehr weit davon entfernt, zu viel über dich zu wissen, Wolf Hadda, dachte sie, als sie ihn langsam in den Besucherraum hinken sah. Sie hatte in George Proctors Gegenwart die Frage gestellt, ob es nicht möglich wäre, ihm einen Gehstock zu geben. Der Chief Officer hatte aufgelacht und gesagt: »Klar, und dann kann ich auch gleich noch einen Vorrat an Knüppeln und Spießen beantragen, wo ich schon mal dabei bin.«
    Heute wirkte er noch langsamer als sonst. Als er sich auf seinem Stuhl niederließ, suchte sie nach Anzeichen dafür, dass er darauf brannte, über den zweiten Teil mit ihr zu reden. Das wäre ein Indiz gewesen; sie wusste nicht genau, wofür. Aber sie konnte keine Anzeichen entdecken, was ebenfalls ein Indiz war, obwohl sie erneut nicht genau wusste, wofür.
    Sein Gesicht war ausdruckslos, die dunkle Brille verbarg auch sein intaktes Auge. Vielleicht war es sogar geschlossen, und der Mann schlief.
    Sie sagte laut: »Wie kommen Sie mit Ihrer Entstellung zurecht?«
    Falls sie gehofft hatte, ihn mit ihrer jähen Schonungslosigkeit zu verblüffen, so wurde sie enttäuscht.
    Er sagte nachdenklich: »Lassen Sie mich nachdenken. Meinen Sie das Hinken à la Long John Silver oder den Zyklopenblick oder die Tatsache, dass ich nie wieder Geige spielen kann?«
    Sie nickte und sagte: »Danke«, und machte sich eine Notiz auf ihrem Block.
    »Wofür? Ich hab Ihre Frage nicht beantwortet.«
    »Ich denke doch. Durch Übertreibung in Bezug auf Ihr Bein und Ihr Auge. Silver war ein teuflischer Mörder, der sein ganzes Bein verloren hatte, und die Zyklopen waren kannibalistische Ungeheuer. Was Ihre Hand betrifft, so deutet nichts in Ihrer Akte darauf hin, dass Sie mal Geige gespielt haben, somit war das ein abfälliger Scherz.«
    »Und das sagt Ihnen?«
    »Dass es Sie richtig wütend macht, hinken zu müssen und nur noch ein Auge zu haben, dass Sie sich aber mit dem Verlust der Finger abgefunden haben.«
    »Vielleicht weil ich hier im Knast nicht so richtig dazu komme, Golf zu spielen. Ich könnte nämlich die Antwort von Sammy Davis junior, als er mal nach seinem Handicap beim Golf gefragt wurde, glatt übertrumpfen.«
    »Tut mir leid, ich versteh nichts von Golf.«
    »Er hat geantwortet: ›Ich bin ein schwarzer, einäugiger Jude.‹ Ich könnte sagen: Ich bin ein einäugiger, einhändiger, hinkender, pädophiler Betrüger.«
    »Und was daran wäre wahr?«
    Er runzelte die Stirn und sagte: »Sie geben nie auf, was? Achtzig Prozent, höchstens. Der körperliche Kram ist unbestreitbar. Was den Betrug angeht, nun ja, ich hab gewisse Grenzen ausgelotet, die sich nach dem großen Crash anscheinend verschoben haben, und ich räume ein, dass ich wohl auf der falschen Seite dieser neuen Grenzen gelandet bin. Aber ich bin weder in Worten noch in Gedanken, noch in Taten pädophil.«
    Sie beschloss, das so stehen zu lassen. Zugegeben, das Eingeständnis, dass er ein Betrüger war, musste als Fortschritt eingestuft werden, wenngleich sie aus ihrer Lektüre der Prozessakten wusste, dass die Beweise gegen ihn keineswegs stichhaltig gewesen waren. Vielleicht hatte sein Anwalt richtig gelegen, als er argumentierte,

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