Rache
grauhaarige Bursche, der sie so penetrant angestarrt hatte.
Auch jetzt schaute er zu ihr herüber.
Und runzelte die Stirn.
Sherry sah woanders hin.
An einem der anderen Tische hockte eine verwahrloste alte Frau, die leise vor sich hin brabbelte, und am Tisch daneben ein stämmiges, brutal aussehendes Rockerpärchen. Der Mann, der zerzauste, schwarze Haare und einen zottigen Bart hatte, drehte ihr den Rücken zu, aber die Frau konnte Sherry gut sehen. Sie trug eine Augenklappe. Auf der ärmellosen Jeansjacke des Mannes prangten am Rücken die Worte Hounds of Hell.
Gut, dass die hier sind, dachte Sherry.
Weiter hinten, am anderen Ende des Restaurants, saßen zwei Männer und eine junge Frau. Sie mochten Anfang zwanzig sein, unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und kamen Sherry ziemlich ernsthaft vor. Neben ihren Kaffeetassen lagen mehrere Bücher.
Vielleicht Studenten, dachte Sherry.
Sie mochte sie auf Anhieb.
Vielleicht könnten sie mich von hier wegbringen.
Sherry drehte sich wieder um und sah, dass Tobys Wagen noch immer am Straßenrand stand. Die Scheinwerfer hatte er jetzt ausgeschaltet.
Aber er sitzt doch noch drinnen, oder?
Sherry ging leicht in die Hocke und kniff die Augen zusammen. Durch die Scheiben des Restaurants und des Wagens konnte sie hinter dem Lenkrad undeutlich einen Schatten erahnen.
Als sie sich wieder aufrichtete, tat Sherry ihr Körper an mehreren Stellen so weh, dass sie vor Schmerz die Zähne zusammenbeißen musste. Sie blickte an sich herab und sah, dass der rechte Ärmel ihrer farbenfrohen Bluse an der Naht abgerissen war und nur noch mit ein paar Fäden an ihrer aufgeschürften, blutigen Schulter hing.
Nur ein einziger Knopf knapp oberhalb von Sherrys Nabels hielt die Bluse, die völlig aus dem Rockbund herausgerutscht war, vorne noch zusammen. Zum Glück war wenigstens der gelbe Rock, auch wenn er an der Vorderseite sehr schmutzig war, nicht zerrissen.
Sherry beugte sich nach vorn, drückte den gefältelten Stoff an ihre Oberschenkel und begutachtete ihre Knie. Sie waren beide aufgeschürft und bluteten.
Ihr rechter Schuh fehlte, und ihre ehemals weiße, jetzt vor Schmutz fast schwarze Socke war ihr bei ihrem Sturz halb vom Fuß gezogen worden.
Auf dem linken Fuß balancierend hob Sherry das rechte Bein und zog die Socke hoch.
Als Nächstes untersuchte sie ihre Arme. Neben der Schürfwunde an ihrer linken Schulter hatte sie noch eine weitere am rechten Unterarm.
Sie überlegte sich, was ihr sonst noch fehlte.
Ein zerrissenes Ohrläppchen.
Vielleicht Blutergüsse im Gesicht von Tobys erstem Faustschlag.
Und innere Verletzungen vom zweiten.
Möglicherweise eine Quetschung der Brust.
Vielleicht wäre es gut, wenn sie die Toilette aufsuchen würde. Dort könnte sie ihre Wunden besser untersuchen, sich säubern, aufs Klo gehen …
Sie musste ziemlich dringend.
Aber wenn Toby doch hereinkommt?
Dann bin ich ihm da drinnen alleine ausgeliefert.
Sie ging wieder leicht in die Hocke, schaute aus dem Fenster und sah, dass Toby noch immer hinter dem Lenkrad saß.
Will er warten, bis ich herauskomme?
Sherry blickte hinüber zu dem unheimlichen grauhaarigen Mann. Er starrte sie noch immer an.
Sie drehte ihm den Rücken zu und versuchte, ihre Bluse wieder zuzuknöpfen. Aber sie fand keine Knöpfe mehr, nur Reste von abgerissenen Fäden. Die mussten jetzt irgendwo auf der Straße liegen, dachte sie.
Neben den abgeschürften Fetzen meiner Haut.
Sherry hielt sich die Bluse zusammen und ging, ohne sich umzudrehen, zu dem Schild mit der Aufschrift BANOS . In dem kurzen Durchgang darunter gab es mehrere Türen: Nur für Angestellte, Privat, Hombres …
Vor der Hombres- Tür blieb sie stirnrunzelnd stehen.
Ob sich da drinnen in der Kabine wohl immer noch die nackte Frau versteckte?
Vielleicht könnte sie mir ihr Top leihen? Sie braucht es ja doch nicht. Oder ich kaufe es ihr ab. Ich gebe ihr zehn Dollar dafür und meine Bluse für den Heimweg …
MEINE HANDTASCHE!
Sherry ließ ihre Bluse los, hob die Arme und blickte an sich hinab, wobei sie den Kopf rasch von einer Seite zur anderen bewegte in der vagen Hoffnung, dass ihre Handtasche doch noch an einer ihrer Schultern hing.
Dann wirbelte sie herum.
Auf dem Boden lag die Handtasche auch nicht.
Und sie schwang auch nicht hinter ihrem Rücken und schlug gegen ihren Po.
Sie war tatsächlich nicht mehr da.
Mit einem bangen Gefühl versuchte Sherry sich daran zu erinnern, wo sie die Tasche verloren. Hatte der Sturz
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