Racheakt
Wunschkind warst?«, wollte die Frau unvermittelt wissen.
»Ja. Meine Eltern wollten unbedingt ein Kind.«
»Guter Start für dich. Bei mir war die Sache nicht so rosig. Weißt du, wie das ist, wenn deine Mutter dir eines Tages erzählt, der schlimmste Fehler ihres Lebens sei, nicht verhindert haben zu können, dass du geboren wirst?«
»Nein«, flüsterte Jule ehrlich bestürzt.
»Wie auch. Allen Abtreibungsversuchen hätte ich getrotzt und schon bei der Geburt habe sich nicht verbergen lassen, wie hässlich ich sei. Aber zum Glück wurde zwei Jahre später meine hübsche Schwester geboren.«
Jule starrte in ihre Teetasse.
»Fortan hatte unser Leben einen Mittelpunkt. Alles drehte sich um dieses ach so hübsche Kind. Für mich kauften wir Hosen und Pullis im Secondhandshop – für unseren Liebling nur vom Feinsten. Kleidchen und Röckchen und Blüschen. Und dann starb mein Vater. Er wurde bei Glatteis aus der Kurve getragen und war sofort tot. Meine Mutter meinte, es wäre nett von ihm gewesen mich mitzunehmen auf seiner Reise in den Himmel.«
Mein Gott, dachte Jule, das fühlt sich an wie sterben. So durfte man doch ein kleines Kind nicht behandeln! Sollte das der Grund für all diese schrecklichen Morde sein!
»Wo ist denn eigentlich deine Mutter? Du lebst doch mit deinem Vater allein, nicht?«
Jule verschluckte sich und hustete.
»In Norwegen.«
»Der Liebe wegen?«
»Ja. Sie ist dort verheiratet.«
»Hast du dich nicht auch schon gefragt, warum sie dich verlassen hat? Liebt sie diesen Mann mehr, als ihr eigenes Kind? Und warum musstest du zurückbleiben? Warst ihr wohl in ihrem neuen Leben im Weg?«
Jule schluchzte auf, versuchte sich die Ohren zuzuhalten und hörte doch jedes ihrer Worte. Genau das hatte sie sich auch immer wieder gefragt, all die Jahre lang. Doch davon konnte diese Fremde doch nichts wissen! Sie versucht nur dich zu manipulieren, flüsterte ihre innere Stimme zu, hör nicht auf sie. Sie will dir schaden!
Als sie wieder aufsah, war die Frau verschwunden.
Jule weinte sich in einen unruhigen Schlaf.
43
Schon als er den Wagen parkte, entdeckte er überrascht Emile Couvier, der auf den Stufen vor seinem Haus saß und ein Polaroidfoto in der einen und einen beschriebenen Zettel in der anderen Hand hielt.
Als er Nachtigalls Schritt hörte, sah er auf und der Hauptkommissar konnte sehen, dass der junge Mann hemmungslos weinte.
»Was ist los?«
Statt einer Antwort hielt Couvier ihm Zettel und Foto hin.
»Jule! Das ist Jule!«, ächzte Nachtigall.
Sie lag gefesselt auf dem Boden. Ihre Augen waren geschlossen.
Der Brief in seiner Hand zitterte so sehr, dass er Mühe hatte, die Worte zu entziffern.
Es muss immer ein letztes Opfer geben – eines, dass Zeugnis ablegt vom Motiv. Identifikation: Zeh
Jule in der Hand des Täters! Gab es noch eine Chance sie zu retten oder war sie bereits tot?
Für einen Bruchteil einer Sekunde verlor Peter Nachtigall den Boden unter den Füßen. Tränen drängten sich hinter seinen Augen, Verzweiflung wühlte sich durch seinen gesamten Körper. Seine Jule!
Gedanken überschlugen sich, Pläne, Möglichkeiten stolperten durcheinander. Was konnte er nur tun? Sie hatten doch noch nicht einmal eine ungenaue Vorstellung diesem Psychopathen. Er musste Jule retten, aber wie?
Die Polizei war er selbst – also musste er es auch selbst anpacken.
Er schüttelte Emile an den Schultern.
»Los – aufgestanden! Flennen bringt sie nicht zurück! Wir müssen sie suchen!«
Michael Wiener und Albrecht Skorubski verständigte er übers Handy. Eine Viertelstunde später waren sie betroffen und schweigsam um seinen Schreibtisch versammelt.
»Hier. Das ist mit Klebestreifen an meiner Haustür befestigt worden«, Nachtigall reichte Foto und Brief weiter.
»Hot denn ein Nachbar g’sehe, wer des hin g’hängt hot?«
»Fahren Sie bei mir vorbei und fragen Sie nach.«
Der junge Kollege stürzte davon.
»Ihre Freundin weiß doch sicher, mit wem sie den Nachmittag verbracht hat?«
»Ja. Die habe ich schon angerufen. Die beiden waren gemeinsam unterwegs und dann so gegen halb drei ist Jule nach Hause gefahren. Sie wollte Hausaufgaben machen. Aber als Sophie später bei uns angerufen hat, ist Jule nicht rangegangen«, antwortete Nachtigall leise.
»Der Täter muss sie doch dann auf dem Heimweg überwältigt haben – Jule ist doch eine Kämpferin. Das muss doch aufgefallen sein! Schließlich steigt sie nicht einfach so zu jemandem ins Auto. Gerade jetzt
Weitere Kostenlose Bücher