Racheakt
»Typischer Fall von pubertärem Endteenie mit pädagogischem Sendungsbewusstsein und ideologischer Steifheit. Sehr schwierig!«
Sie stießen lachend an. Beglückt registrierte Peter Nachtigall, dass sie die förmliche Ebene ihrer Bekanntschaft zu verlassen schienen. Sie hatte ihn geduzt! Ohne großes Getue!
Doch der aktuelle Fall drängte sich gnadenlos wieder an den Tisch zurück.
»Günter Grabert hat sicher keine Bildmitteilung an LTV geschickt. Er ist in Computerdingen genau so unwissend wie du und ich.«
»Wir können es nicht ausschließen. Außerdem kann jeder so tun, als sei er zu blöd seinen Laptop zu bedienen. Die Mail kam über den Mailserver einer Anwaltskanzlei in Berlin – und dein Günter war heute dort. Zufall? Angeblich begleitete er einen Patienten der Reha -Einrichtung zu einer speziellen Therapie in die Charité. Zwei Stunden Freizeit, die er nach Belieben nutzen konnte.«
»Du siehst Gespenster – und außerdem ist es nicht »mein« Günter. Ich war heute auch in Berlin – als Gutachterin bei einem Prozess. Und viele andere Cottbuser sicher auch. Sind die jetzt alle verdächtig?« Ihre Augen leuchteten amüsiert.
»Die anderen nicht, du schon. Du bist ja in den Fall involviert«, neckte er sie.
»Die Frau, das unbekannte Wesen«, lachte sie. »Vielleicht stammen die Nachrichten ja gar nicht wirklich vom Täter. Woher wisst ihr, dass ihr es nicht mit einem psychopathischen Wichtigtuer zu tun habt?«
»Das können wir mit Sicherheit ausschließen. Der Absender hat sich jedes Mal eindeutig identifiziert.«
»Ach – er hat mit: »Ich bin der Mörder« unterschrieben?«
»Nein. Aber hat ein Detail erwähnt, das nur er und wir kennen. Wir wissen jetzt übrigens auch sicher, dass wir einen Mann suchen. Der Gedanke, dass in Cottbus eine psychopathische Serienmörderin unterwegs sein könnte, hat mich schon ganz schön beunruhigt.«
Sie sah ihn überrascht an.
»Habt ihr nun doch noch Sperma sichergestellt?«
»Nein- wir haben ein Haar gefunden! Es ist nicht genug Material für eine vollständige DNA-Analyse, aber das Labor meint, es sei das Haar eines Mannes.«
»Ich finde deine Arbeit wirklich faszinierend. Ein Haar bringt euch auf die richtige Spur. Weißt du, ich arbeite zwar mit den Tätern – aber von der Polizeiarbeit habe ich nicht die geringste Ahnung«, sie breitete in gespielter Verzweiflung die Arme aus. »Da wirst du mir wohl noch jede Menge erklären müssen.«
Er sah fasziniert in diese wunderbaren Augen und dachte erschaudernd daran, was ihre Patienten ihr wohl so alles erzählen mochten.
Beim Dessert hatte sich das Thema zu Nachtigalls Freude wieder von Morden und Tätern entfernt. Sie unterhielten sich über Vorlieben beim Kochen und Essen, stellten Gemeinsamkeiten beim Weingeschmack fest und beschlossen, alle fremdländischen Restaurants zu testen, die Cottbus zu bieten hatte. Und das waren nicht wenige, wie sie beim Aufzählen feststellten. Genug jedenfalls für viele zukünftige gemütliche Abende.
Beschwingt kehrte Nachtigall nach Hause zurück.
42
13. November
»Jule Nachtigall?«
Beinahe lautlos war der Geländewagen neben ihr aufgetaucht, während sie versuchte in den Tiefen ihrer Tasche den Hausschlüssel zu finden.
»Ja?«, antwortete die junge Frau verblüfft und versuchte vergeblich sich an das Gesicht hinter dem Steuer zu erinnern.
Die Frau schien ihre Verwirrung zu bemerken und begann hastig zu erklären.
»Schnell, springen Sie rein. Ich bin vom LKA. Ihr Vater wurde bei einer Schießerei schwer verletzt. Ich soll Sie zu ihm ins Krankenhaus bringen!«
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, schwang Jule sich auf den Beifahrersitz.
Sekundenbruchteile später versank ihre Welt in undurchdringlichem Dunkel.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Boden eines halbdunklen Kellerraumes, an Händen und Füßen gefesselt. Hämmernde Kopfschmerzen erschwerten das Erinnern. Diese Polizistin wollte sie doch ins Krankenhaus fahren. Wie passte das zu den Fesseln? Und ganz langsam wurde Jule klar, dass sie auf den ältesten aller Entführersprüche hereingefallen war. Wie sollte sie das später ihrem Vater erklären – und würde sie überhaupt noch Gelegenheit haben, es zu versuchen?
Die Tür ging auf und die unbekannte Frau trug ein Tablett herein. Sie setzte es neben Jule ab und sagte: »Ich löse dir jetzt die Fesseln, dann kannst du das hier trinken. Ich habe dir eine Aspirin aufgelöst – ich denke, du kannst was gegen
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