Racheakt
Kopfschmerzen gebrauchen.«
Jule nickte zögernd.
»Warum? Warum haben Sie mich verschleppt?«
»Freiwillig wärst du doch sonst nicht mitgekommen. Du verstehst doch, dass mir keine andere Wahl blieb, oder?«
Jule hielt es für sicherer nicht zu widersprechen, also nickte sie wieder vage.
Sie nahm das Glas mit der noch sprudelnden Flüssigkeit und warf der Fremden einen fragenden Blick zu.
»Na, nun trink es schon aus! Es ist kein Gift drin. Wäre doch völlig schwachsinnig dich herzubringen, um dich dann zu vergiften, das hätte ich auch einfacher haben können. Ich hätte ja nur ein bisschen fester zuschlagen müssen.«
Das leuchtete dem Mädchen ein.
»Die Menschen verstehen nicht, was ich ihnen erklären möchte. Sie sind dumm, strohdumm! Deshalb werde ich dich als eine Art Dolmetscher benutzen. Ich erkläre dir, worum es mir geht – und du wirst meine Mission verstehen lernen!«
»Mission?«
»Oh, ja. Ich wurde geboren, um den Menschen die Augen zu öffnen. Deshalb musste ich auch so viel Leid und Enttäuschung ertragen. Bei den meisten, die für Großes vorgesehen sind, ist das so. Doch manchmal habe ich das Gefühl, es ist schon zu spät. Der Irrweg ist voller Verlockungen, und die Menschen sind zu schwach zu widerstehen.«
Jule hatte sich aufgesetzt und rieb sich die Handgelenke. War sie der Priesterin einer neuen Sekte in die Hände gefallen? Oder lag es an den nur langsam abebbenden Kopfschmerzen, dass ihr das Gerede wirr vorkam? Vielleicht hatte sie eine Gehirnerschütterung.
Sie sah sich in dem Raum um. Offensichtlich ein Kellerraum, dachte sie. Durch ein Fensterband direkt unterhalb der Decke fiel spärliches Licht. Vielleicht von einer Straßenlaterne. An der Längswand stand ein Schreibtisch, dessen lange Glasplatte von hölzernen Tischlerböcken getragen wurde. Wenige Utensilien standen darauf. Jule entdeckte eine nackte Barbiepuppe, eine Schere, dicke Marker und einen Collegeblock. In einem schmalen Regal an der Giebelwand standen drei Glasgefäße, in denen je ein Zeh schwamm. Auf dem unteren Brett lagen sechs kleine Äpfel – in einer ordentlichen Reihe.
Jule hielt den Atem an.
Die Frau bemerkte es.
»Ja. Stimmt schon. Ich bin der Schlächter von Cottbus.«
»Eine Frau?«
»Ja. Komm schon, streng dich an. Von dir hätte ich nun wirklich mehr erwartet! Findest du nicht auch, dass wir Frauen kolossal unterschätzt werden? Dabei habe ich deinen Vater mit der Nase darauf gestoßen – aber er wollte davon nichts hören! Frauen morden anders! So ein Quatsch! Frauen morden, wie sie wollen.«
»Ja. Männer sind leider oft recht unflexibel im Denken«, stimmte Jule zu. Das Medikament begann zu wirken und zunehmend breitete sich Panik wie ein Geschwür in ihr aus. Diese Frau war irre. Sie hatte schon drei junge Frauen getötet und nun war sie ihr nächstes Opfer. Würde es wohl ihre Überlebenschancen verbessern, wenn sie der Frau beweisen konnte, ihre Auffassungen lägen gar nicht so weit auseinander?
Doch diese Hoffnung machte der nächste Satz sofort zunichte.
»Ach, was weiß denn eine Göre wie du schon vom Leben? Nichts!«, zischte die Fremde böse.
Klebriges Schweigen breitete sich aus.
»Damit das klar ist: Du bist hier, weil die anderen einfach zu schnell gestorben sind. Sie konnten nicht mehr verstehen, warum ich sie töten musste. Dabei wäre es mir wichtig gewesen. Es ist schließlich etwas Besonderes von mir auserwählt worden zu sein, um eine Umkehr zu bewirken«, predigte sie und breitete die Arme weit aus.
Papa, flehte Jule stumm, Papa, überlass mich nicht dem Teufel!
Als sie zum zweiten Mal in den Keller kam, war es schon dunkel. Jule hoffte, ihr Vater oder Emile hatten ihr Verschwinden inzwischen bemerkt und eine Suchaktion eingeleitet. Sie würden sie rechtzeitig finden, tröstete sie sich, bestimmt.
Die Fremde brachte wieder ein Tablett mit, diesmal mit belegten Broten und zwei Tassen Tee.
Sie zündete eine Kerze an und setzte sich im Lotussitz zu dem Mädchen auf den Boden.
»Dies ist wie eine eigene Wohnung hier unten. Du findest ein kleines Bad hinter der schmalen Tür da. Ich habe dir hingestellt, was du so brauchst. Ich schätze, du wirst ein paar Tage mein Gast sein. Aber mach dir keine Hoffnung: Entkommen kannst du nicht.«
Jule war erstaunt, dass sie tatsächlich Hunger hatte.
Es ist abartig, dachte sie, du hockst hier mit einer irren Mörderin im Keller und isst mit ihr Abendbrot! Bei Kerzenschein!
»Weißt du eigentlich, ob du ein
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