Racheengel
Sessel. Er ließ den Kopf auf die Kissen sinken und schloss die Augen.
Es schien nur einen Augenblick später, als ein Klappern ihn hochschrecken ließ. Eine Tasse und ein Teller wurden auf den Couchtisch gestellt. Er hob den Kopf und sah, wie Galya nach einer dampfenden Tasse Tee griff. Eine zweite stellte Susan ihm hin.
»Nicht, dass du ihn verdienst hättest«, sagte sie.
Lennons Lächeln erwiderte sie nicht.
Er nahm den Becher vom Tisch, trank einen Schluck von dem heißen, süßen Tee und spürte die Wärme durch seine Kehle bis in die Brust rinnen. Susan verschwand für ein paar Minuten, dann kehrte sie mit einem Bündel Kleidungsstücken zurück. Sie legte es neben Galya auf die Couch.
»Die werden dir sicher ein bisschen zu groß sein«, sagte sie, »aber sie sind warm. Auf jeden Fall besser als diese Krankenhausklamotten.«
Galya stellte ihren Becher ab und legte eine Hand auf den Kleiderstapel. Lennon roch den angenehmen Duft von Weichspüler, und plötzlich kam eine Erinnerung hoch, wie er sich früher als Junge im Haus seiner Mutter an kalten Tagen die Socken immer direkt vom Bügeleisen geschnappt hatte. Lächelnd wackelte er mit den Zehen und spürte beinahe wieder, wie sich das angefühlt hatte.
Dann brach Galya vor seinen Augen zusammen, und sein Lächeln war wie weggeblasen.
Eben noch hatte sie mit der Hand auf den Kleidern dagesessen, und im nächsten Moment war es, als würde sie zerbrechen. Ihre Schultern zuckten, sie weinte. Ein leises Wehklagen, das tief aus ihrem Inneren aufzusteigen schien, entfuhr ihr als unterdrücktes Schluchzen. Dicke Tränen tropften ihr von den Wangen in den Schoß. Sie hielt die Hände auf, als wolle sie sie nicht an den Bademantel verlieren, den sie trug.
Lennon stand auf, obwohl er keine Ahnung hatte, was er jetzt machen sollte.
Susan nahm ihm die Entscheidung ab. Sie schob den Couchtisch beiseite, kniete sich vor das Mädchen und breitete die Arme aus. Galya ließ sich hineinfallen und vergrub ihr Gesicht an Susans Hals.
»Ist ja gut, mein Schatz«, tröstete Susan sie. Ihr Atem verwehte gegen die feinen blonden Haare auf Galyas Kopf. »Hier bist du sicher. Niemand tut dir mehr etwas.«
Lennons und Susans Blicke begegneten sich. Ihre Augen waren voller Tränen und voll tiefem Verständnis, und er fragte sich, woher sie diese Art von Schmerz wohl kannte. Er wollte etwas sagen, danke, irgendetwas, sie vielleicht berühren, aber dann stand er doch nur mit hängenden Armen da und brachte nichts über die Lippen.
Eine Bewegung vorne im Zimmer errettete ihn aus seiner Hilflosigkeit. Er wandte den Kopf und sah Ellen und Lucy aus dem Schlafzimmerflur hereinspähen.
»Frohe Weihnachten«, sagte er.
Die Mädchen huschten herein und schauten unsicher drein, als sie den fremden Gast bemerkten.
»Du bist ja wiedergekommen«, sagte Ellen.
»Natürlich«, sagte Lennon, obwohl er wusste, dass es alles andere als sicher gewesen war, dass er sein Versprechen würde halten können.
Ellen antwortete nicht, kam aber angelaufen und umarmte seinen Oberschenkel.
»War das Christkind schon da?«, fragte Lucy.
Lennon räusperte sich und zeigte auf den Weihnachtsbaum. »Schaut doch mal selbst«, schlug er vor.
Er folgte den Mädchen zum Baum und strich unterwegs Susan mit den Fingerspitzen über den Hals. Sie griff mit ihrer Hand nach seiner und schenkte ihm ein erschöpftes Lächeln.
Die Mädchen hatten bereits angefangen, die Geschenke zu begutachten, als er sich zwischen ihnen auf den Boden kauerte. Ellen kuschelte sich in seinen Schoß und machte sich daran, die Geschenke auszupacken, die sie entdeckt hatte. Sie und Lucy kicherten und kreischten und verglichen ihre Geschenke, zeigten einander die farbenfrohen Schachteln und bestaunten jauchzend deren Inhalt.
Beide entdeckten sie eine Barbie-Puppe, jede mit einem anderen Outfit, und machten sich daran, die Plastikfiguren aus ihren Verpackungen zu befreien.
Als Ellen die Arme ihrer Puppe in eine Stellung brachte, die ihr gefiel, erinnerte Lennon sich wieder an die Puppe, die Ellen vor über einem Jahr besessen hatte, als sie mit ihrer Mutter wieder aus Birmingham zurückgekehrt war. Sie war nackt gewesen und ihr Haar wirr, aber trotzdem hatte Lucy sie geliebt. Er fragte sich, was wohl damit passiert war.
Ellen schmiegte sich an seine Brust und flüsterte: »Wer ist das?«
»Das ist jemand, dem Daddy helfen muss«, sagte Lennon.»Sie hat eine schwere Zeit durchgemacht, deshalb kümmern wir uns heute mal um
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