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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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des Herrn wird mich befreien«, erklärte er. »So wie Petrus aus seinem Verlies befreit wurde, so werde auch ich befreit werden.«
    »Glauben Sie nicht, dass der Engel des Herrn an Weihnachten Besseres zu tun hat?«, fragte Lennon.
    Paynter merkte, wie das Lächeln auf seinen Lippen erstarb. »Nur der Narr spottet den Herrn«, sagte er. »Oder seinen Boten.«
    »Der sind Sie also?«, fragte Lennon. »Sein Bote?«
    Paynter schaute wieder an die Decke. »Es gibt keinen Namen für das, was ich bin«, sagte er.

73
    Frischer Schnee legte sich auf die Windschutzscheibe des Audis, als  Lennon vor dem Apartmenthaus in Stranmillis parkte. Das Mädchen Galya hatte unterwegs wenig gesprochen. Sie hatte nur seinen Mantel fest um sich gezogen und ausdruckslos aus dem Fenster gestarrt.
    »Da sind wir«, sagte er.
    Galya antwortete nicht.
    Lennon stieg aus und lief nach hinten zum Kofferraum. Er machte den Deckel auf und hob einen zusammenklappbaren Rollstuhl heraus, den das Krankenhaus leihweise zur Verfügung gestellt hatte. Es dauerte nur ein paar Sekunden, den Rahmen auseinanderzuklappen und zu arretieren und anschließend die Fußhalterungen herunterzuklappen Als er ihn zur Beifahrertür rollte, hinterließen die kleinen Räder ihre Spuren im Schnee.
    Lennon machte die Tür auf. Galya sah ein paar Sekunden lang zu ihm hoch, als sei sie unsicher, wo sie war. Sie nahm die Hand, die er ihr reichte, und zuckte beim Auftreten zusammen. Er half ihr in den Stuhl und beim Hinsetzen. Sie wog praktisch nichts.
    Auf der Fahrt hatte er über die Frauen nachgedacht, für deren Gesellschaft er bezahlt hatte. Wie oft wohl in den letzten paar Jahren? Bestimmt zigmal, auch wenn er in den letzten sechs Monaten der Versuchung widerstanden hatte. Er hatte dabei und auch danach immer Schuldgefühle gehabt, aber abgehalten hatte es ihntrotzdem nie. Schließlich nahmen sie ja bereitwillig das Geld, sagte er sich, niemand hatte sie gezwungen. Sie wurden bezahlt, und er wurde seinen Samenstau los. Keiner wurde verletzt. Keiner litt.
    Soweit Lennon wusste, war keines dieser Mädchen in die Zwangsprostitution verkauft worden. Ein paar waren natürlich Ausländerinnen, grazil und mit slawischem Akzent. Aber seiner Überzeugung nach waren das alles mündige Frauen. Niemals hätte er etwas mit einer anfangen können, die dazu gezwungen worden war.
    Aber wie sicher konnte er sich da eigentlich sein?
    Er zwang sich, den Gedanken nicht weiterzuspinnen, und schob Galya durch die Haustür und zum Lift. Immer noch schweigend, fuhren sie hinauf. In den polierten Liftwänden betrachtete er ihr Spiegelbild. Ihr Blick war auf etwas gerichtet, das in weiter Ferne lag.
    Lennon hatte mit genügend tätlicher Gewalt zu tun gehabt, um zu wissen, dass die Opfer danach nicht mehr sie selbst waren. Ihr Leben war in zwei Hälften geteilt, in den Menschen davor und den danach. Nichts von dem, was dem Menschen davor wichtig gewesen war, bedeutete ihm danach noch etwas.
    Er fragte sich, wie Galya wohl vorher gewesen war. Und er fragte sich, ob die Galya danach je wieder diese Leere in ihrem Blick würde füllen können.
    Als sie Susans Etage erreichten, gab der Lift ein Pling von sich, und die Türen glitten auf. Susan erwartete sie im Türeingang. Sie lächelte Galya an, nicht aber Lennon.
    »Danke dir«, sagte er, als er Galya über die Schwelle rollte.
    Susan antwortete nicht. Sie ging voraus bis ins Wohnzimmer, wo unter dem Weihnachtsbaum eingepackte Geschenke lagen und sich die blinkenden Kerzen im Silberpapier spiegelten.
    Eine kurze Panik erfasste Lennon. »Hast du etwa …?«
    »Ja«, sagte Susan. »Als sie im Bett waren, bin ich in deine Wohnung geschlichen. Ich habe sie auch für dich eingepackt.«
    »Danke«, sagte er.
    »Für dich habe ich es nicht gemacht«, erklärte sie. »Ich habe es für Ellen gemacht.«
    »Trotzdem vielen Dank.«
    »Jack«, sagte sie und sah ihn scharf an. »Halt den Mund.«
    Sie hockte sich neben Galya. »Also, Herzchen, was möchtest du gern haben? Was Heißes zu trinken? Tee? Kaffee? Wie wäre es mit einem Toast?«
    »Ja«, piepste Galya wie ein Vögelchen.
    »In Ordnung«, sagte Susan. Sie streichelte Galya über die Hand und stand auf.
    Lennon tat so, als habe er nicht bemerkt, dass Susan ihm nichts angeboten hatte. Er rollte Galya zur Sitzgarnitur. Nachdem sie sich von ihm aufs Sofa hatte helfen lassen, wusste er nicht recht, was er  als Nächstes tun sollte. Letztlich ergab er sich seiner eigenen Müdigkeit und sank in einen

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