Racheengel
Patterson gehört, und was der sagt, ist ja wohl kaum das Evangelium.«
»Sobald die Forensiker auftauchen, werden sie jede Menge Beweise finden«, sagte Uprichard. »Wir können aber für mildernde Umstände plädieren, falls sie beweisen kann, dass sie es in Notwehr getan hat.«
»Und wo kommt sie jetzt hin?«, fragte Lennon. »In ein Frauenhaus der Opferhilfe oder in eine Zelle?«
»Es ist Weihnachten«, erinnerte ihn Uprichard. »Bei der Opferhilfe gibt es niemanden, der sich um sie kümmern kann. Wir müssen sie wohl in eine Zelle stecken.«
»Nein«, sagte Lennon. »Nach all dem, was sie durchgemacht hat, können wir sie nicht auch noch in eine Zelle stecken.«
»Wenn sie Verdächtige in einem Mordfall ist, bleibt uns wahrscheinlich gar keine andere Wahl.«
Lennon stand auf. »Werden Sie sie verhaften?«
»Nein, jetzt noch nicht, aber …«
»Werden Sie sie unter Tatverdacht verhören?«
»Es ist nicht meine Entscheidung, das zu …«
»Dann gibt es keinerlei Grund, dass dieses Mädchen auch nur eine Minute früher in eine Zelle gesteckt wird, als sie muss.«
»Und was schlagen Sie stattdessen vor?«, fragte Uprichard.
Lennon dachte nach und rieb sich seine übermüdeten und trockenen Augen. Es gab nur eine Antwort, bei der er ruhig würde schlafen können.
»Ich bin ein kompletter Idiot«, sagte er.
71
Galya studierte die Lippenbewegungen der netten Frau und hörte die Worte, die sie formten, aber in ihrem Kopf kam nur wenig davon an. Die Frau redete über Agenturen, über die Polizei, die Einwanderungsbehörde, die Frauenrechte, manchmal nahm sie dabei auch Galyas Hand.
Derweil schlich sich der Schlaf an sie heran, und sie musste ihn mit Gewalt abschütteln.
Die Frau war sehr freundlich und beteuerte immer wieder, sie sei da, um ihr zu helfen.
Aber das Bett war so bequem, und obwohl jede Faser in ihrem Körper mehr oder weniger schmerzte oder brannte, bedrängte der Schlaf sie weiter.
Ihr waren schon die Lider zugefallen, da ließ ein Husten sie wieder hochfahren. Sie öffnete die Augen und sah, wie der Polizist seinen Kopf durch den zugezogenen Plastikvorhang steckte, der das Bett umgab. Er sagte der freundlichen Frau etwas, sie entschuldigte sich und ging mit ihm weg.
Jetzt, wo sie allein war, verschwamm das ganze Gelärme des Krankenhauses zu einem einlullenden Gemurmel, so wie das Plätschern eines Baches im Sommer. Galya dachte an Mama und Papa und an das Häuschen, in dem sie aufgewachsen war, an den Geruch von Brot im Backofen, Mamas raue Hände und die Straße, die zu ihrer Tür führte. Als sie noch tiefer im wärmenden Schlummer versank,sah sie den Mann mit dem Mondgesicht, die Zähne in seiner Hand, er zeigte sie ihr, zählte sie einen nach dem anderen ab und sortierte die heraus, die aus ihrem eigenen Mund stammten. Als sie mit dem Finger darin herumstocherte, entdeckte sie die Lücken, wo sie gesessen hatten. Und dann wollte er ihr noch etwas zeigen, etwas ganz Glänzendes, etwas Scharfes, etwas …
Ein unterdrückter Schrei entfuhr ihr, als die Hand der netten Frau sie wieder aufweckte.
»Alles in Ordnung, Kleines«, sagte die nette Frau. »Du bist in Sicherheit. Niemand tut dir etwas.«
Galya schob sich einen Finger zwischen die Lippen und fuhr damit über ihren Oberkiefer. Als sie merkte, dass kein Zahn fehlte, sprach sie ein stilles Dankgebet zu Mama.
Sie schaute von der netten Frau auf den Polizisten, der dahinter stand. Er sah erschöpft aus, ein Verband lag über der Platzwunde an seinem Kinn.
»Das ist Detective Inspector Jack Lennon von der nordirischen Polizei«, sagte die freundliche Frau. »Er war es, der Sie gefunden hat.«
Galya war sich nicht sicher, ob man von ihr erwartete, dass sie jetzt irgendetwas sagte, also nickte sie nur.
»Er hat versucht, eine Bleibe für Sie zu finden, sobald Sie hier entlassen werden. Die Polizei hat spezielle Unterkünfte, wo Opfer von Verbrechen untergebracht werden können. Sie sind auch komfortabel, aber jetzt ist Weihnachten und niemand da, der sich dort um Sie kümmern kann. Ansonsten kann die Polizei Sie nur noch in einer Zelle auf dem Revier unterbringen. Da können Sie bis nach den Feiertagen bleiben. Sie sind dort sicher, aber besonders gemütlich ist es nicht.«
»Zelle?«, fragte Galya. »Wie im Gefängnis?«
»Sonst gäbe es da noch eine andere Möglichkeit«, sagte die freundliche Frau. »Dieser Polizeibeamte hat eine Freundin, einesehr nette Dame, und bei der können Sie bleiben. Sie macht Ihnen etwas zu
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