Racheengel
sie.«
»Ich habe von ihr geträumt«, sagte Ellen.
»Wirklich?«
»Da war ein böser Mann«, erzählte Ellen. »Er wollte ihr weh tun.«
Früher hätte es Lennon schockiert, dass Ellen Kenntnis von Dingen besaß, mit denen sie eigentlich gar nichts zu tun hatte. Aber im Verlauf des letzten Jahres hatte er begriffen, dass sie aus irgendeinem Grund Dinge wusste, die sie besser nicht gewusst hätte.
»Er kommt ins Gefängnis«, sagte Lennon. »Er kann niemandem mehr weh tun.«
Zufrieden mit dieser Antwort, stand Ellen auf und ging hinüber zu Susan, die gerade Galyas Wangen mit einem Papiertaschentuch abtupfte. Ellen nahm Galya bei der Hand.
»Komm mit«, sagte sie.
Widerstandslos stand Galya auf und ließ sich von Ellen zum Weihnachtsbaum führen. Wegen ihrer kaputten Füße machte sie winzige, schlurfende Schritte. Sie setzte sich zwischen die beiden Mädchen. Lennon sah ihr zu.
Ellen drückte Galya die Puppe in der Hand. »Guck mal«, sagte sie, »man kann sie umziehen.«
Sie suchte ein Kleid aus und zeigte es der Besucherin.
Lächelnd sagte Galya: »Es ist sehr schön.«
Ellen wählte einen Hosenanzug aus. »Und der hier?«
»Auch sehr schön«, sagte Galya.
»Aber welches ist schöner?«, fragte Ellen.
»Das Kleid.«
Ellen reichte ihr das Kostüm, und Galya fing an, die Haken aufzumachen. Mit der Konzentration eines Kindes kaute sie dabei auf der Zunge.
Lennon ließ die beiden spielen.
74
Arturas Strazdas wählte die Nummer noch einmal.
Immer noch ging keiner dran.
»Mistkerl«, fluchte er nach dem Piepton. »Ruf mich zurück, du verdammter Mistkerl.«
Er warf das Telefon aufs Bett. Das Zimmer kam ihm viel kleiner vor als gestern. Er hatte vielleicht eine Stunde geschlafen und dabei von Tomas geträumt, wie er nackt auf einem Seziertisch lag. Und nur Herkus war dagewesen, um ihn zu begraben. Herkus allerdings konnte nichts mehr für Tomas tun, denn er war selbst tot.
Strazdas war mit einem Gefühl aufgewacht, als läge etwas Schweres auf seiner Brust. Mehrere Minuten lang hatte er dagelegen, ohne schreien zu können. Als er sich endlich bewegen konnte, hastete er zum Schreibtisch im Wohnzimmer, drückte seine Nase auf die Platte und inhalierte sämtliches Pulver, das sich noch irgendwo darauf befand.
Seitdem versuchte er, seinen Kontaktmann zu erreichen, diesen Dreckskerl, der nicht dranging. Zwei Stunden waren schon vergangen, und die Sonne warf ein milchiges Licht durch die Wolken, die über der Stadt hingen.
Strazdas öffnete das Fenster und biss in der eisigen Luft, die seinem nackten Körper durch Mark und Bein ging, die Zähne zusammen. Stocksteif und kerzengerade blieb er mit seiner Gänsehaut so lange stehen, bis er sich vor Kälte schüttelte.
Das Telefon klingelte. Er griff danach.
»Wo waren Sie? Warum sind Sie nicht drangegangen, Sie verdammter …?«
»Arturas?«, sagte sie.
Er setzte sich auf die Bettkante. Beim Klang ihrer Stimme hatte er sofort weiche Knie bekommen. »Mutter.«
»Hast du mich vergessen?«
»Nein«, sagte er.
»Hast du vergessen, was du mir versprochen hast?«
»Nein«, sagte er.
»Dann rede mit mir.«
Er suchte nach Worten, fand aber keine.
»Sprich mit mir«, wiederholte sie. Die Unbarmherzigkeit ihrer Stimme beschwor eine Erinnerung herauf, die er lieber weiter begraben hätte, statt dass sie in seinem Kopf herumspukte und die Gewissheiten umstürzte, die er zu haben glaubte. Er presste die Knie zusammen und bedeckte mit der freien Hand seine Genitalien.
»Mein Fahrer ist tot«, sagte er. »Irgendein Verrückter hat ihn umgebracht.«
»Dein Fahrer interessiert mich nicht. Mich interessiert nur die Hure, die meinen Sohn getötet hat.«
Strazdas merkte, dass seine Blase drückte. »Die hat die Polizei«, sagte er.
Ein paar Sekunden hörte er nur Schweigen, dann sagte sie: »Du musst sie denen wegnehmen.«
»Mein Kontaktmann kümmert sich schon darum.«
»Ist mir egal, wer es erledigt. Hauptsache, du weißt, dass du mir nicht wieder unter die Augen trittst, bevor du getan hast, was ich von dir verlangt habe. Hast du mich verstanden?«
Eine dunkle, stechende Hitze rumorte in seinen Eingeweiden. Seine Blase verlange dringend nach Erleichterung. »Habe ich.«
»Gut«, sagte sie und legte auf.
Er ließ das Telefon fallen und rannte ins Bad. Die ersten Tropfen entkamen schon, noch bevor er die Toilettenschüssel erreicht hatte. Ein Frösteln schüttelte ihn, er schloss die Augen und lauschte dem Plätschern des Wassers.
Als seine Blase leer
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