Racheengel
war, duschte er und stellte dabei den Hahn so heiß, wie er es nur aushalten konnte. Dann kehrte er ins Schlafzimmer zurück und nahm wieder das Telefon zur Hand. In der Zwischenzeit hatte sich draußen das Tageslicht durchgesetzt. Er wählte noch einmal die Nummer seines Kontaktmannes und wartete auf den Anrufbeantworter.
»Hundertausend für die Hure«, sagte er.
Nicht einmal eine Minute später rief der Kontaktmann zurück.
»Heute wird es schwierig«, sagte er.
»Mein Angebot gilt bis morgen Mittag«, gab Strazdas zurück. »Danach ist es nur noch die Hälfte. Und übermorgen noch mal die Hälfte.«
»Überlassen Sie das mir«, sagte der Kontaktmann.
75
Galya erwachte aus einem tiefen, traumlosen Schlaf und fragte sich ein paar Sekunden lang, wo sie war. Zuerst kam die Erinnerung daran wieder, wo sie gewesen war, und schnürte ihr die Luft ab. Erst dann begriff sie, dass sie in Sicherheit war.
Sie blieb noch eine Zeitlang reglos liegen und versuchte, an nichts zu denken als an das lange Bad, das sie genommen hatte, bevor sie hier zu Bett gegangen war. Fast eine Stunde lang hatte sie im Wasser gelegen, die verbundenen Füße in Plastikbeutel gewickelt und auf den Rand gelegt. Lieder waren ihr eingefallen, Lieder, die sie in ihrer Kindheit mit ihren Freundinnen gesungen hatte. Die hatte sie nun wieder vor sich hin gesummt und ihrer eigenen Stimme gelauscht, die von den Fliesen widerhallte.
Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Es kam ihr vor, als habe sie erst eben die Augen zugemacht und sich in Susans warmes Bett gekuschelt. Aber als sie sie wieder aufgemacht hatte, war das Licht anders gewesen. Sie horchte auf das Getriebe vor der Schlafzimmertür. Die beiden Mädchen lachten, Teller und Töpfe schepperten. Die Frau, Susan, kochte. Sie schien ein guter Mensch zu sein, aber abgespannt, so als quäle sie ein innerer Schmerz. Galya vermutete, dass das teilweise an Lennon lag, dem Polizisten, der sie hergebracht hatte.
Er war ein seltsamer Mann. Ein anständiger Mann, glaubte Galya. Sie fragte sich, warum er sie wohl in die Wohnung dieserFrau gebracht hatte, anstatt sie in eine Zelle zu sperren. Als wolle er sich irgendwie seine eigene Ehrenhaftigkeit beweisen. Manchmal lächelte er und lachte und sprach sogar, aber dann war er mit den Gedanken wieder ganz woanders und sein Blick leer.
Vertraute sie ihm? Sie war sich noch nicht sicher. Aber Susan vertraute ihm ganz offensichtlich, das musste vorerst reichen.
Sie schob die Steppdecke beiseite, richtete sich auf und setzte, so vorsichtig es ging, die Füße auf den Boden. Sofort brannten ihre Sohlen, trotz der Verbände. Der Schmerz kroch ihr durch die Gelenke und bis hinauf in die Waden. Überall an ihrem Körper stach und schmerzte sie etwas.
Die sauberen Kleidungsstücke lagen auf einem Häuflein neben ihrem Bett. Ihre eigenen hatte die Polizei mitgenommen. Indizien, hatte es geheißen.
Die freundliche Frau, die im Krankenhaus mit Galya gesprochen hatte, hatte ihr versprochen, von der Polizei habe sie nichts zu befürchten. Ganz eindeutig habe sie ja in Notwehr getötet, das würden die schon verstehen. Der Mann, der gestorben war, sei ein Verbrecher gewesen, dem die Polizei keine Träne nachweinte.
Abe trotzdem würde es ein Verfahren geben und Fragen, die sie beantworten musste. Einen Gerichtssaal und Anwälte. Monate, die sie in dieser Stadt verbringen musste, ohne die Aussicht, nach Hause zu gelangen.
Galya merkte, wie ihr wieder die Tränen kamen, aber sie unterdrückte sie. Schluss damit. Nicht jetzt. In den nächsten Tagen und Wochen würde sie noch genug Gelegenheit haben zu weinen.
Sie zog sich die Jeans und das T-Shirt an, beides zu groß für ihre schmalen Schultern und Hüften. Dann lehnte sie sich an die Wand und streifte vorsichtig die Pantoffeln über. Die polsterten ihre Füße ein wenig, als sie zur Tür schlurfte und sie aufmachte.
Ein paar Sekunden lang blieb Galya stehen und schaute hinaus. Von hier aus konnte sie durch den kleinen Flur bis ins Wohnzimmersehen, wo die Mädchen wieder unter dem Baum spielten. Der Polizist sprach auf seinem Handy, und Susan deckte einen Tisch mit Tellern und Besteck.
Der Geruch warmen Essens ließ Galya das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihr Magen knurrte. Gebratenes Fleisch, heißes Öl, gekochtes Gemüse. Und vor allem war da der süße Duft von Zucker. Galya sah im Geiste schon Schokolade und Karamell vor sich und musste sich die Hand vor den Mund halten, damit sie nicht vor Freude
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