Racheengel
aufjauchzte. Ein plötzliches Schwindelgefühl überkam sie, und sie musste sich am Türrahmen festhalten.
Susan sah von ihren Vorbereitungen hoch und lächelte sie an. »Komm ruhig«, sagte sie. »Nur keine Schüchternheit.«
Langsam humpelte Galya zum Tisch und stützte sich unterwegs ab, wo immer es ging. Schon wieder grummelte ihr Magen, und diesmal so laut, dass Susan die Augenbrauen hob.
»Setz dich doch«, sagte die. »Wir geben dir einen kleinen Vorsprung vor den anderen.«
Galya sank auf einen der Stühle, vor ihr stand ein leerer Teller. Susan griff in eine Dose und holte eine Handvoll in buntes Papier gewickelter Bonbons heraus. Über dem Teller machte sie die Hand auf, und die Bonbons rieselten heraus wie ein Piratenschatz. Galya wickelte einen grünen Edelstein aus und biss hinein. Sie schloss die Augen und ließ die Schokolade auf der Zunge zergehen. Dann atmete sie genüsslich durch die Nase aus, und ihre Mundwinkel hoben sich.
Als sie erneut den Mund aufmachte, setzte sich der Polizist ihr gegenüber hin.
»Die wollen Sie heute Abend auf dem Revier haben, damit sie Sie morgen früh verhören können«, sagte er.
Das flüchtige Lächeln auf ihren Lippen erstarb.
»Wir können vorher noch essen«, sagte er, »aber danach muss ich Sie hinbringen. Ich habe die gefragt, ob das nicht noch Zeithätte bis morgen, aber der Leiter meines Dezernats, mein Chef, will Sie dort haben. Er war nicht begeistert, dass ich Sie nicht gleich vom Krankenhaus aus hingebracht habe.«
»Und komme ich danach wieder hierher zurück?«, fragte Galya.
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Nein. Die wollen Sie in Untersuchungshaft nehmen.«
Sie spürte, wie ihr die Augen brannten.
»Keine Sorge«, sagte Lennon. »Morgen müsste die Opferhilfe ein Zimmer für Sie haben. Sie bleiben nur eine Nacht in der Zelle. Das verspreche ich.«
Galya lächelte, obwohl sie das Gefühl hatte, dass Lennon – so wie die meisten Männer – seine Versprechungen selten hielt.
76
Sie aßen beinahe schweigend, nur Ellen und Lucy sorgten mit ihrem gelegentlichen Flüstern für ein Gespräch. Lennon sah Galya zu, die mehr Essen verdrückte, als er bei ihr jemals für möglich gehalten hätte. Sie aß ihren Teller leer und hielt ihn Susan dann einfach wieder hin, die ihn auch pflichtschuldig wieder mit Truthahn, Schinken und Röstkartoffeln belud. Als der Nachtisch kam, Trifle und Eis, aß sie eine ganze Schüssel, einen gehäuften Löffel nach dem andern. Als sie satt war, rülpste sie, und die Mädchen lachten.
»Bitte um Entschuldigung«, sagte sie.
»Keine Sorge«, sagte Susan und machte sich daran, die Teller abzuräumen. »Leg dich doch einfach wieder hin und schlaf noch ein bisschen.«
»Danke«, sagte Galya. Sie stand auf und sah nacheinander jeden an. »Euch allen.«
Lennon nickte lächelnd. »Ich glaube, ich gönne mir auch ein kleines Nickerchen«, sagte er.
»Nein, tust du nicht«, widersprach Susan. »Du hilfst mir gefälligst beim Aufräumen.«
Lennon wusste, dass Proteste nichts helfen würden, also seufzte er nur und sammelte das Besteck und die schmutzigen Servietten ein.
Als er gemeinsam mit Susan die Teller ins Waschbecken stellte, fragte sie: »Was geschieht jetzt mit ihr?«
»Man wird sich schon um sie kümmern«, sagte Lennon. »Selbst wenn die Staatsanwaltschaft sie wegen des Mordes anklagt, wird sie wohl kaum einsitzen müssen. Höchstwahrscheinlich wird die nordirische CARE sie während des Verfahrens irgendwo unterbringen, und wenn alles vorüber ist, kann sie nach Hause.«
»Und dann?«, fragte Susan. »Was sie durchgemacht hat, das ganze Trauma? Wie soll sie damit klarkommen?«
»Damit haben wir nichts zu tun«, sagte er und wusste noch im selben Moment, wie gefühllos sich das anhörte.
»Herrgott«, empörte sich Susan. »Das ist ja, als wäre sie für euch Typen nur irgendein Müll, den ihr wegwerft, wenn ihr mit ihr durch seid.«
»So ist das nicht«, sagte Lennon, obwohl er wusste, dass es haargenau so war. »Man wird sich um sie kümmern, so gut es eben geht. Wenn sie EU-Bürgerin wäre, Polin oder Lettin, dann könnte sie hierbleiben und sich behandeln lassen. Psychologische Beratung, medizinische Versorgung, was auch immer. Aber sie ist Ukrainerin. Und damit muss sie, sobald die Behörden mit ihr fertig sind, das Land verlassen. Mehr können wir nicht für sie tun.«
»Es ist beschissen, einen Menschen so zu behandeln«, sagte Susan. »Wenigstens weiß ich, dass du dein Bestes für sie tun
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