Racheengel
würden sie nicht auf ihn schießen. Das musste er riskieren, wenn er frei sein wollte.
»Sofort fallen lassen, verdammt!«, rief der Polizist.
Sag nein , verlangte der Engel des Herrn.
»Nein«, sagte Paynter.
Der Polizist hob die Pistole und zielte auf Paynters Stirn.
»Fallen lassen, oder ich schieße.«
Sag nein.
»Nein«, sagte Paynter.
Langsam beugte er den Arm und hob die Pistole, richtete die Mündung jedoch nicht auf den Polizisten vor ihm, sondern an die Decke.
»Ich schieße, verdammt!«
Nein, macht er nicht.
»Nein, machen Sie nicht«, sagte Paynter.
Die Freiheit war sein, auch wenn die Polizisten oder irgendwelche Gaffer das vielleicht noch nicht begriffen. Fast vierundzwanzig Stunden lang hatte er diesen Moment im Geiste immer wieder durchgespielt, hatte jede Bewegung, jedes Wort einstudiert, geleitet von den flüsternden Stimmen.
Etwas Warmes umfing sein Herz, etwas, das sich anfühlte wieFrieden, und er rief sich wieder die Worte in Erinnerung, die er vorbereitet hatte.
Jetzt sprich , sagte der Engel des Herrn.
»Mein Name ist Edwin Paynter«, begann er. »Ich habe acht Frauen zum Herrn geführt, drei in Salford und fünf in Belfast.«
»Herrgott noch mal, lassen Sie die Waffe fallen!«, schrie der Beamte.
Paynter ignorierte ihn. Ihm fiel wieder ein, was er vor ein paar Stunden den Ausländer in seinem Keller hatte machen sehen. Er legte seine freie Hand auf den Schlitten der Pistole, schob ihn zurück, spürte, wie die Metallteile ineinanderrasteten, und sagte: »Sie werden mir danken, wenn ich sie in Seinen Armen sehe.«
Der Polizist machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich erschieße Sie, verstehen Sie mich?«
»Ihr könnt mich nicht festhalten«, entgegnete Paynter. »Eure Gefängnisse können mich nicht festhalten. Der Engel des Herrn wird mich befreien.«
Er hörte nicht die Schreie der Menschen um ihn herum, als er sich die Mündung an die Lippen setzte und zwischen den Zähnen hindurch bis zum Gaumen hochschob.
Es schmeckte nach Öl und Metall, und er spürte, wie der Engel des Herrn ihn auf die Wange küsste.
Dann drückte er ab.
TEIL 4
JACK
80
Galya wartete auf dem Beifahrersitz, während Lennon das Heck des Wagens untersuchte. Obwohl sie den Mantel eng um sich geschlungen hatte, spürte sie, wie durch das zertrümmerte Fenster hinter ihr die kalten Finger der Nacht nach ihr griffen. Trotz der Erschöpfung, die ihren Körper befallen hatte, zitterte sie. Um Angst zu haben, war sie viel zu erschöpft, sie wollte nur noch schlafen.
Lennon machte die Fahrertür auf und stieg ein. »So schlimm ist es nicht«, sagte er. Sein Atem dampfte. »Man kann ihn noch fahren.«
Eine halbe Stunde lang hatten sie sich durch alle möglichen Straßen geschlängelt, vorbei an unzähligen Reihen dunkler Häuser. Die ganze Zeit über hatte der Polizist in den Rückspiegel geschaut, bis er sich sicher war, dass sie nicht verfolgt wurden. Erst dann hatte er angehalten, um den Schaden zu begutachten.
Jetzt ließ er wieder den Motor an, fuhr los und suchte sich über die vereisten Straßen seinen Weg.
Nachdem sie einige Minuten geschwiegen hatten, fragte Galya: »Wer war das?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lennon. »Aber ich weiß, wer ihn geschickt hat.«
»Wer?«
»Arturas Strazdas«, sagte er. »Der Bruder des Mannes, den Sie getötet haben.«
Die Frau im Krankenhaus hatte Galya mit sanfter, trauriger Stimme die Konsequenzen ihres Handelns erklärt. Da war es ihr noch vorgekommen wie eine Geschichte, ein Märchen über irgendein Mädchen, das man in eine fremde Stadt gebracht hatte, wo sie verkauft wurde.
»Ich wollte diesen Mann nicht töten«, sagte Galya. »Ich wollte nicht, dass das alles passiert.«
»Das weiß ich«, sagte Lennon. »Aber ich glaube nicht, dass es für ihn eine Rolle spielt.«
Lennon bog nach links in einen Kreisel ein und fuhr von dort auf eine lange, gerade Straße. Als sie sich einem von einer hohen Mauer umgebenen Gebäudekomplex näherten, wurde er langsamer. Flutlicht durchbohrte den Nebel, der sich über das ganze Gelände gelegt hatte. Neben einem Doppeltor standen klotzig die Worte: Polizei von Nordirland, Dienststelle Ladas Drive.
Lennon hielt an und machte den Motor aus. Er starrte auf das Gebäude.
»Da wollen Sie mich hinbringen?«, fragte sie.
»Ja«, sagte er. »Wollte ich jedenfalls.«
»Wollte?«
Er saß einen Augenblick schweigend da, legte die Unterarme auf das Lenkrad und dachte nach. Sein Atem ließ die Windschutzscheibe
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