Racheengel
Informationen hatte, aber das würde nichts bringen. Sie würde ihm jede Sekunde übelnehmen, die er ihr die Nachricht vorenthalten hatte, und ihn dafür bestrafen. Jede Minute, in der er sich die Beichte ersparte, würde sie ihm mit einer Minute der Raserei vergelten.
Er stand auf, ging ins Wohnzimmer der Suite und hob sein Handy vom Boden auf. Der Aufprall gegen die Wand hatte einen oder zwei Sprünge hinterlassen. Er öffnete die Kontakte-Liste. Ihre Nummer war unter Laima abgespeichert. Natürlich hätte er sie niemals in ihrem Beisein so genannt, aber es wäre ihm albern vorgekommen, in einer Telefonliste »Mutter« stehen zu haben.
Bevor er die Anruftaste drückte, tupfte er mit der Fingerspitze weißes Puder von der Glasscheibe. Er massierte es in seinen Gaumen ein und gab sich dem kühlen, betäubenden Gefühl hin, das darauf folgte.
Jetzt anrufen.
Strazdas lauschte auf die Rufzeichen, während das Handy mit der Brüsseler Wohnung verbunden wurde. Vor seinem geistigen Auge erschien der große offene Wohnbereich und das Telefon auf dem eleganten Beistelltisch neben dem Plüschsofa, das er seiner Mutter gekauft hatte. Er sah, wie sie in der dunklen Wohnung das Licht anschaltete, zum Telefon ging und nach dem Mobilteil griff, den Blick getrübt von Schlaf und Tränen.
»Hallo?«, meldete sie sich.
»Ich bin es.«
Im ersten Moment nur Schweigen; dann: »Sag es mir.«
»Tomas ist tot.«
Er hörte ein verzerrtes Klackern, als das Telefon zu Boden fiel. Ein erstickter Schrei wie von einem Tier, das in eine Falle geraten war. Eine Minute oder länger hörte er die unterdrückten Schluchzer und Klagelaute, dann brachen sie plötzlich ab, als hätte man eine Nadel aus der Rille einer alten Vinylscheibe gehoben.
»Wie?«
Strazdas erzählte ihr alles. Über die Hure, dass Tomas sie hatte einreiten wollen, dass sie ihm mit einer Spiegelscherbe die Kehle durchgeschnitten hatte, dass Darius und dieser Idiot, mit dem erunterwegs gewesen war, versucht hatten, die Leiche im Wasser zu versenken und dass die Hure ihnen entkommen war.
Als er fertig war, hörte er ihren gleichmäßigen Atem.
Schließlich sagte sie: »Töte sie!«
»Mache ich«, versprach Strazdas.
»Sorg dafür, dass die Schlampe leidet für das, was sie meinem Jungen angetan hat.«
Er war wieder das Kind, das sich schämte, weil es ins Bett gemacht hatte, mit den roten Spuren ihrer harten Hand auf den Schenkeln. »Mache ich«, versprach er.
»Und jeden anderen, der dafür verantwortlich war, und jeden, der sich dir in den Weg stellt. Hast du mich verstanden?«
Oder der junge Teenager, den sie mit den Fingern in der Hose erwischt und angewidert den Mund verzogen hatte. »Ja«, versprach er.
»Töte sie alle.«
Seine Blase drückte. »Ja.«
Ein hartes Klicken, dann war sie weg.
Er rannte ins Bad.
15
Ein weißer Toyota-Kleintransporter kam näher, seine Scheinwerfer tauchten die Dunkelheit unter der Brücke in helles Licht. Galya drückte ihren zitternden Körper an den Pfeiler, der Beton an ihrer Wange war eiskalt.
Der Transporter wurde langsamer. Auf der Fahrerseite wurde das Fenster heruntergelassen, und das rundliche Gesicht des Insassen kam zum Vorschein.
Galya trat von dem Pfeiler weg und ließ sich vom Licht einfangen.
Der Fahrer lächelte. Er lehnte sich zur Beifahrertür hinüber, öffnete sie und drehte sich wieder zu ihr um.
»Komm«, sagte er.
Er war am Nachmittag zu ihr gekommen. Als er, von Rasa hereingeführt, den Raum betreten hatte, hatte sie ihn kurz angeschaut und dann den Blick gesenkt.
Rasa sprach ihn auf Englisch an. »Viel Spaß mit ihr«, sagte sie. »Sie ist neu. Noch unberührt.«
Dann schloss sie die Tür und ließ ihn mit Galya allein.
Er blieb am anderen Ende des Schlafzimmers stehen. Die Augen in seinem runden Gesicht waren wie schwarze Ölflecken. Das ungestüme Haar hatte er sich aus der Stirn geschoben, und ein dichter Bart umrahmte die rote Öffnung seines Mundes. Von derMitte der Stirn bis zur Außenkante seiner rechten Augenbraue verlief eine rosarote Narbe. 38, 39, vielleicht vierzig. Galya musterte ihn aus den Augenwinkeln.
»Hallo«, sagte er.
Sie versuchte zu antworten, aber ihrer Kehle entwich nur ein zähes Gemurmel.
»Darf ich mich setzen?«, fragte er.
Galya rutschte noch weiter ans Kopfende des Bettes. Sie spürte sein Gewicht auf der Matratze, die schaukelte wie ein Boot auf einer Welle, von der einem übel wurde. Galya sah ihn nicht an, spürte aber seinen Blick auf ihrer bloßen
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