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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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die Schuhe angezogen, in denen sie kaum stehen konnte. Eine Stunde hatte sie halbnackt und mit Gänsehaut dagesessen und darauf gewartet, dass der Freier kam. Die Wochen, seit sie von Kiew nach Wilna, von Wilna nach Brüssel und schließlich von Brüssel nach Dublin geflogen war, waren zu einem einzigen zähen Brei aus lauter Mühseligkeit zerlaufen. Arbeiten und schlafen, arbeiten und schlafen, immer nass und kalt, immer schmutzig, immer müde, immer Heimweh nach Zuhause.
    Jetzt saß sie in einem Zimmer mit einem weichen Bett, kalt, aber trocken, und musste nichts weiter tun, als einen Freier glücklich zu machen. Brachte sie so etwas fertig? Vielleicht, wenn sie den Gedanken an Mama gewaltsam verdrängte.
    Vielleicht hätte sie es getan, vielleicht hätte sie sich hingegeben, hätte es da nicht den freundlichen Mann gegeben und das Kreuz, das er ihr in die Hand gedrückt hatte. Und den Zettel, auf den eine Telefonnummer gekritzelt war. Die Hoffnung, die er ihr gab, hatte sich in ihrem Herzen in Mut und an ihren Händen in Blut verwandelt.
    »Ruf mich an«, hatte er ihr in einem Akzent gesagt, der nicht aus Belfast stammte.
    »Ich kann dich retten«, hatte er gesagt.
    Und Galya hatte ihm geglaubt.

12
    Er legte das Telefon neben das Glas auf den Tisch zurück. Mit seinem kräftigen Finger strich er über das Kondenswasser und spürte die Kühle auf seiner schwieligen Haut.
    Sie hatte früher angerufen, als er erwartet hatte. Er hatte nicht einschlafen können und sich, da er ohnehin wach war, ein Buttermilch-Shandy gegönnt. Ein halbes Glas Buttermilch und ein halbes Glas Limonade. Er nahm einen Schluck, schmeckte das süß-saure Gemisch und schluckte es hinunter.
    Normalerweise dauerte es Tage, manchmal Wochen, bevor sie anriefen. So traurig es auch war, die Mädchen ließen eine Menge Misshandlungen über sich ergehen, bevor sie nach einem Ausweg suchten. Aber diese hier hatte weniger als vierundzwanzig Stunden gebraucht. Sie musste ziemlich unter diesen Ungeheuern gelitten haben, aber das wollte er sich lieber gar nicht vorstellen.
    Weil er nicht wollte, dass sein eigener Wagen gesehen wurde, war er heute Nachmittag mit einem Taxi zu der Wohnung gefahren und hatte dort geläutet. Ein Summer ertönte, und das Schloss sprang auf. Er trat ein.
    Die ältere Frau wartete auf dem Treppenabsatz auf ihn. Sie war zu gut gekleidet für eine solche Umgebung.
    »Hallo, Schatz«, begrüßte sie ihn mit starkem Akzent. »Deine erste Mal?«
    »Ja«, log er.
    »Keine Sorge«, sagte sie und ließ ihn in die Wohnung. »Bestimmt du hast Spaß.«
    Drinnen lungerten vor der kleinen Küche drei Männer herum. Zwei waren, nach ihren Tattoos und der Kleidung zu urteilen, Einheimische. Der dritte sah aus wie ein Ausländer, ein Hüne mit einem Riesenbauch und großen Pranken.
    Unsicher, ob er weitergehen sollte, blieb er in der Tür stehen.
    Einer der Einheimischen sah hoch, nahm aber kaum Notiz von ihm und unterhielt sich weiter mit seinen Freunden.
    »Komm«, sagte die Frau. »Nicht so schüchtern.«
    Beim Eintreten fragte er sich, warum er so nervös war. Es war ja nun wirklich nicht das erste Mal, dass er solch einen Ort betrat. Er hatte es schon sehr oft getan.
    »Ist fünfzig Pfund für Massage«, sagte die Frau und streckte die Hand aus.
    »Was?«, fragte er und spielte den Ahnungslosen.
    »Du gibst fünfzig für Massage«, sagte die Frau. »Du willst was anderes, ist zwischen dir und ihr.«
    »Ah«, machte er. Er griff nach seinem Portemonnaie, zählte zwei Zwanziger und einen Zehner ab und legte sie ihr in die Hand.
    »Ist gut«, sagte sie lächelnd und bleckte ihre vergilbten Zähne. Nikotin, vermutete er.
    Sie stopfte sich die Scheine in die Bluse und schob dabei den Stoff ihres Büstenhalters zur Seite. Eine unnötige Geste, fand er.
    »Komm«, sagte sie. »Ihr Name ist Olga.«
    Mindestens in einem Drittel der zwei Dutzend Gelegenheiten, bei denen er solche Wohnungen aufgesucht hatte, war der Name des Mädchens Olga gewesen. Die meisten hatten leere Augen und bewegten sich wie Marionetten. Sie sagten hallo und bitte und danke. Wenn er ihnen erklärte, dass er nichts von ihnen wolle, zupften sie trotzdem an seinen Kleidern. Das waren die verlorenen Seelen. Für sie konnte er nichts mehr tun.
    Aber ein paar hatten noch Leben in sich. Sie hörten ihm zu. Sie starrten ihn voller Hoffnung und Ehrfurcht an, wenn er zu ihnen von Rettung sprach. Sie riefen ihn an. Irgendwann.
    Die Frau führte ihn durchs Wohnzimmer und öffnete eine

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