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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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er.

14
    Noch bevor Herkus aufgehört hatte zu sprechen, drückte Arturas Strazdas die rote Taste auf seinem Telefon. Er starrte das Display an, ohne etwas wahrzunehmen.
    Tomas tot.
    Von einer Hure umgebracht.
    Wie einen Hund irgendwo am Straßenrand liegengelassen.
    Brüllend warf Strazdas das Telefon gegen die Wand. Er brannte innerlich, sein Herz glühte vor Zorn. Büschelweise packte er seine Haare und riss daran. Er ballte die Rechte zur Faust und schlug sich damit so lange auf die Stirn und die Schläfen, bis er, benommen wie ein Betrunkener, gegen die Wand taumelte.
    Trotzdem wollte das Feuer nicht verlöschen.
    Er streifte sich den linken Hemdsärmel vom Unterarm und vergrub seine Zähne in dem blassen Fleisch.
    Ein Schmerz, heiß und grimmig, erstickte endlich seinen Zorn. Er bekam sich wieder unter Kontrolle. Vorsichtig machte er den Mund auf. Es schmeckte nach Metall.
    Die Scham traf ihn mit voller Wucht, wie ein Schlag in die Magengrube. Noch nie hatte er einer Menschenseele von diesen Wutanfällen erzählt, und er würde das auch nie tun. Dass sie ihn manchmal dazu brachten, sich selbst zu verstümmeln. Dass er sich gelegentlich Wunden zufügte. Dass er sich, wenn auch nur selten, ritzte.
    Strazdas atmete schwer, holte durch die Nase Luft und blies sie durch den Mund wieder aus, bis sich der Herzschlag in seiner Brust wieder beruhigt hatte. Er ging ins Bad der Suite und drehte am Waschbecken das kalte Wasser auf. Dann lehnte er sich gegen den schwarzen Marmor, hielt seinen Unterarm unter das Wasser und sah zu, wie rote Schlieren in den Abfluss rannen.
    Er verfluchte sich.
    Seit zehn oder noch mehr Jahren machte er das nun schon. Immer aus dem Nichts heraus, und kaum hatte es angefangen, war es auch schon wieder vorbei. Erst die Wut, dann der Schmerz, um sie zu ersticken, und dann die Scham.
    Einmal, in seiner Wohnung in Brüssel, hatte die Putzfrau ihn dabei gesehen, wie er sich selbst ins Gesicht geschlagen und in den Handrücken gebissen hatte. Sie hatte gefragt, ob alles in Ordnung sei. Ja, hatte er gesagt, alles in Ordnung, keine Sorge.
    Ihre Leiche war nie gefunden worden.
    Strazdas riss ein halbes Dutzend Blatt Toilettenpapier ab, legte sie zu einem Ballen zusammen und drückte sie auf die blutunterlaufene Wunde. Er richtete sich auf und sah sich im Spiegel an. Ein gutaussehender Mann, wie man ihm schon öfter gesagt hatte. Dichtes schwarzes Haar und blaue Augen. Reine Haut, schöne Gesichtszüge.
    Er spuckte den Spiegel an. Der Speichel sprühte wie eine Gischt auf die Scheibe und lief hinunter.
    Arturas Strazdas wusste, dass es ihm nicht gut ging, aber er hatte keine Ahnung, wie er wieder gesund werden sollte. Oft schien es ihm, als sei sein Leben schon vorgezeichnet und er selbst Zeuge seines eigenen Schicksals. Er hatte noch nie eine Frau gehabt, für die er nicht bezahlt hatte, noch nie einen Freund, der ihn nicht fürchtete, und er wusste, dass er allein sterben würde.
    Und er hatte immer gewusst, dass er seinen Bruder beerdigen würde.
    O Gott, Tomas.
    Strazdas nahm ein Handtuch und wischte die Spucke von der Scheibe, dabei vermied er, in sein Spiegelbild zu schauen. Er warf das Handtuch ins Waschbecken, ging ins Schlafzimmer und setzte sich auf die Bettkante.
    Tomas tot.
    Wie sich wohl Trauer anfühlte? Bewusst hatte Strazdas sie noch nie empfunden. Als er von einem Onkel erfahren hatte, dass sein Vater gestorben sei, hatte er zwar die Rolle des trauenden Sohnes gespielt, aber insgeheim hatte er jubiliert. Noch nie hatte er das Hinscheiden eines anderen beweint.
    Strazdas schloss die Augen und erforschte sein Innerstes, auf der Suche nach einem Gefühl des Verlusts. Irgendetwas nistete da in seinem Herzen. Vielleicht war das ja eine Totenklage für seinen Bruder. Aber dem entgegen stand die Erleichterung, dass er sich nun nie wieder um Tomas’ Katastrophen würde kümmern müssen. Und dieses Gefühl wiederum wurde noch in den Schatten gestellt von der Wut darüber, dass einer aus seiner eigenen Familie von einer Hure umgelegt worden war.
    Daran klammere dich, halt dich fest an deinem Zorn.
    Würde denn nicht jeder normale Mensch Wut empfinden, wenn der Bruder ermordet wurde? Ja, das würde er. Von einer Hure umgebracht!
    Ruf nicht wieder an, bevor du ihn gefunden hast, hatte seine Mutter gesagt.
    »Ich habe ihn gefunden«, sagte Strazdas in das leere Zimmer hinein.
    Er musste sie anrufen. Ihr erzählen, was geschehen war. Zuerst hatte er überlegt, noch abzuwarten, bis er mehr

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