Racheengel
immer schon handwerklich gearbeitet.« Er spreizte seine Stummelfinger auf der Tischplatte, dann zeigte er auf eine lange Narbe an seiner Augenbraue. »Da habe ich mir auch die hier geholt. Ein Hohlblock ist von einer Palette gefallen und hat mich über dem Auge erwischt. Ein Dutzend Stiche. Seitdem trage ich immer einen Schutzhelm. Im Moment ist aber nicht viel Arbeitzu kriegen. Ziemlich ruhig. Aber das macht nichts. So habe ich mehr Zeit, Mädchen wie dir zu helfen. Möchtest du, dass ich dir helfe?«
Weil ihr keine Lüge einfiel, antwortete Galya: »Ich weiß nicht.«
»Solltest du aber«, sagte er, und ein Lächeln legte sein breites Gesicht in Falten. »Dazu hat Jesus mich nämlich berufen. Dass ich Mädchen wie dir helfe. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden hatte, was ich tun sollte, aber am Ende hat Er es mir gezeigt. Ich habe schon vielen Mädchen geholfen.«
»Wie vielen?«, fragte Galya.
»Du wirst die Sechste sein«, erklärte er, und sein Stolz war ihm im Gesicht abzulesen. »Sie waren alle wie du. Sie kamen von weit her und wurden von schlechten Menschen hergebracht, um wie Fleisch verkauft zu werden. Mit Seiner Hilfe habe ich sie gerettet.«
»Wie wollen Sie mir helfen?«, fragte Galya.
»Du sprichst sehr gut Englisch«, entgegnete er. »Wo hast du das gelernt?«
»In der Schule«, sagte sie. »Und aus Filmen. Ich wollte Übersetzerin werden. Oder Lehrerin.«
»Das kannst du immer noch«, sagte Billy. »Wenn du wieder nach Hause kommst, kannst du werden, was immer du willst.«
»Nein«, sagte Galya. Sie stellte den Becher ab. »Auf die Universität gehen kostet zu viel Geld. Ich muss mich um meinen Bruder Maksim kümmern. Er ist ganz allein zu Hause. Er hat kein Geld fürs Essen. Deshalb war ich hergekommen. Um Geld zu verdienen, das ich ihm dann schicken kann.«
»Aber sie haben dich belogen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wie alt bist du?«, fragte er.
»Neunzehn.«
Er lächelte. »So jung. Viel zu jung, um so behandelt und vondiesen Strolchen entführt zu werden. Erzähl mir von deinem Zuhause.«
Die Müdigkeit schlich sich in Galyas Kopf, doch sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und verscheuchte sie. Gleich würde sie schlafen. Und danach würde sie entscheiden, ob sie die Hilfe dieses Mannes wollte oder nicht.
»Ich komme aus der Nähe von Andriiwka, aus einem Dorf bei Sumy in der Ukraine«, erzählte sie. Jetzt, wo die bedrückende Angst nicht mehr auf ihrer Brust lastete, fiel es ihr leichter, die englischen Wörter zu finden. »Wir sind Russen, mein Bruder und ich. Wir sprechen Russisch, so wie viele Leute, wo wir herkommen. Wir haben zusammen mit Mama und Papa auf ihrem Hof gewohnt. Wir nennen sie Mama und Papa, aber das sind sie eigentlich nicht … Ich weiß nicht, wie man auf Englisch sagt, sie sind die Mama und der Papa von meiner Mutter.«
»Deine Großeltern«, half der Mann.
»Ja, Großeltern. Mutter und Vater sind gestorben, als wir noch ganz klein waren, deshalb haben sich Mama und Papa um uns gekümmert. Papa starb, als ich zehn war, deshalb muss Mama auf dem Feld arbeiten. Manchmal habe ich geholfen, aber es gibt kein Geld. Also, sie verkauft Felder an andere Bauern, damit sie uns Kleidung kaufen kann. Sie hat viele Schulden. Der Mann, der uns Geld leiht, ist gekommen, hat gesagt, er nimmt uns den Hof weg und wirft uns raus aufs Feld. Er sagt, wir sind nur Russen und haben sein Geld gestohlen. Noch nie hat man uns so behandelt. Russen und Ukrainer sind Freunde, wir streiten uns nicht mit unseren Nachbarn, nicht so wie hier.«
Galya dachte an die Mauerbilder und die Graffiti, die sie gesehen hatte, als man sie von jenseits der Grenze in die Stadt gebracht hatte. An den ganzen Hass, der an die Mauern gesprüht war, wo immer man auch hinschaute.
»Eines Tages kommt mein Cousin mich besuchen. Er ist reich.Er hat ein Auto und trägt schöne Sachen. Er sagte mir, er kennt einen Mann, der mir eine Arbeit geben kann, wo ich viel Geld verdiene. Er sagt, ich könnte genug verdienen, um den Mann zu bezahlen, der Geld geliehen hat, damit er uns in Ruhe lässt, und noch mehr, um meinen Bruder zu ernähren. Ich muss nur eine Zeitlang wegziehen, bei einer netten russischen Familie in Dublin wohnen und ihren Kindern die englische Sprache beibringen.«
Galya hob den Kaffee an die Lippen und trank, obwohl er ihr auf der Zunge brannte. Immer noch besser, sich die Zunge zu verbrennen, als vor diesem Mann bitterlich zu weinen, dachte sie. Mama hatte sie stets
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