Racheherz - Roman
neuen Dasein, das er nicht ins Auge zu fassen wagte.
Er hätte Lust gehabt, die beiden Fotos in die Ringbücher zurückzustecken und mit nichts weiter als dem Bild von Lily auf der Stelle zu verschwinden.
Das Problem war, dass er nirgendwohin konnte, außer nach Hause, wo man ihn früher oder später aufschlitzen und ihm das Herz noch einmal herausschneiden würde, diesmal allerdings ohne Narkose.
Nach einer Weile nahm die Luft durch den von Staub gesättigten Wind, der erbarmungslos stöhnte und an den Fenstern schnüffelte, einen schwachen alkalischen Geschmack an.
Als Ryans Handy endlich läutete, handelte es sich bei dem Anrufer nicht um Kyra Whipset, sondern um eine Frau namens Wanda June Siedel, die sagte, sie riefe im Namen von Schwester Whipset an.
»Sie sagte mir, Sie wollten etwas über Ismay Clemm wissen.«
»Ja«, sagte Ryan. »Sie war … in einer schwierigen Phase meines Lebens sehr nett zu mir.«
»Das klingt mir ganz nach Ismay. Und wie. Sie und ich, wir waren acht Jahre lang die besten Freundinnen und ich rechne nicht damit, nochmal einem reizenderen Menschen zu begegnen.«
»Ms Siedel, ich würde sehr gern mit Schwester Clemm reden.«
»Nennen Sie mich Wanda June, mein Sohn. Ich kann Ihnen versichern, dass ich auch liebend gern mit Ismay reden
würde, aber ich muss Ihnen leider sagen, dass sie gestorben ist.«
Ryan sah das Foto der Krankenschwester auf dem Schreibtisch an und mied für den Moment die wichtigste Frage. Stattdessen sagte er: »Was ist passiert?«
»Um es unverblümt zu sagen - sie hat den falschen Mann geheiratet. Ihr erster Mann, Reggie, der war ein Heiliger, wenn man Ismay reden hörte, und ich vermute, er muss es gewesen sein, wenn auch nur die Hälfte ihrer Geschichten über ihn wahr gewesen sind. Aber Reggie, der ist gestorben, als Ismay vierzig war. Sieben Jahre später hat sie wieder geheiratet, diesmal Alvin. Wegen ihm ist sie hergekommen, und ich habe sie kennengelernt. Sie hat Alvin trotz allem geliebt, aber ich habe ihm nie so recht über den Weg getraut. Auf achteinhalb Jahre haben sie es gebracht, dann ist sie rücklings von einer zweckdienlichen Trittleiter gefallen und mit dem Hinterkopf auf zweckdienlichen Beton aufgeschlagen.«
Als Wanda June nicht weitersprach, sagte Ryan: »Zweckdienlich, so, so.«
»Kriegen Sie das nicht in die falsche Kehle, mein Sohn, ich will niemand anklagen und keinem was anhängen. Ich bin weiß Gott kein Polizist, nicht mal dieses CSI sehe ich mir an, und auf Ismays Fall waren eine Menge Polizisten angesetzt, also müssen sie gewusst haben, was sie taten, als sie den Fall als Unfall abgeschlossen haben. Alvin kann sich ja auch nur deshalb kaum einen Monat, nachdem Ismay gestorben war, mit einer anderen Frau eingelassen haben, weil ihn der Kummer und die Einsamkeit verrückt gemacht haben. Außer sich war er vor Kummer und Einsamkeit, außer sich über das Geld, das sie ihm hinterlassen hat, und die
Versicherungssumme, der arme, einsame Alvin, außer sich vor Kummer.«
»Der Sturz hat sie getötet, Wanda June?«
»Nein, nein, mein Sohn, sie haben gewaltig an ihr rumoperiert und eine Zeit lang hatte sie schlimme Schwellungen am Gehirn und wusste nicht, wer sie war, aber sie ist wieder zu sich gekommen, sie hatte Seelenstärke und sie hatte den Herrn. Keine Erinnerung an die zweckdienliche Trittleiter oder an den zweckdienlichen Beton, aber alles andere kam zurück, sie wurde wieder Ismay. Sie war in einer Rehaklinik, wo man sie behandelt hat, weil ihr linker Arm gelähmt war, und sie war die Lähmung fast wieder los, als sie von einem Moment zum anderen einen zweckdienlichen schweren Herzinfarkt bekam, während der arme Alvin gerade mit einem seiner Freunde bei ihr zu Besuch war. Die beiden waren allein mit Ismay im Zimmer und die Tür war geschlossen und das war genau ein zweckdienlicher Umstand zu viel für Ismay, Gott segne und behüte sie.«
»Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen, Wanda June. Ich kann Ihrer Stimme anhören, wie nah Sie ihr gestanden haben.« Dann stellte er ihr die wichtigste Frage: »Wann ist Ismay gestorben?«
»Am Heiligen Abend waren es drei Jahre. Alvin hat ihr ein Geschenk gebracht, diesen wunderschönen Seidenschal, der vermutlich so schön war, dass sie bei seinem Anblick einen Herzinfarkt bekommen hat, und es ist eine tröstliche Vorstellung, dass ihr ausgerechnet Schönheit den Rest gegeben hat, denn es wäre nicht annähernd so zweckdienlich gewesen, wenn sie den Herzinfarkt nicht bekommen
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