Racheherz - Roman
etwas gesagt. Er war gespannt darauf, ob das wieder der Fall sein würde oder ob er beim ersten Mal etwas übersehen haben könnte.
Vielleicht hatte sein persönlicher Weg im Laufe des vergangenen Jahres seine Sensibilität für das Leiden geschärft, denn diese Gesichter gingen ihm diesmal noch tiefer unter
die Haut. Sie blieben weiterhin Porträts von Toten, aber als er sie jetzt ein zweites Mal betrachtete, war ihm schmerzlicher bewusst, dass es Menschen waren, deren Gesichter selbst im Tode noch lebendige Charakterzüge aufwiesen.
Falls ihm beim ersten Durchblättern des Ordners etwas entgangen war, entging es ihm jetzt wieder - und er brachte nicht den Mut zu einer dritten Durchsicht auf.
Das zweite Album war der Band, aus dem er das Foto von Teresa herausgenommen hatte, das ihm einfach keine Ruhe ließ. Er hatte dagesessen und war von den Spiegelungen in ihren Augen hypnotisiert gewesen - bis Cathy Sienna aus dem Flur gekommen und eingetreten war, um zu sagen, sie grusele sich in diesem Haus.
Ryan hatte ihr zugestimmt, und da er angenommen hatte, die Entdeckung von Teresas Totenporträt sei der Magnet gewesen, der ihn hierher gezogen hatte, hatte er das Ringbuch zugeschlagen und es ins Regal zurückgestellt.
Jetzt nahm er zur Kenntnis, dass die dritte Klarsichthülle immer noch leer war. Vielleicht hatte Barghest gar nicht gemerkt, dass Teresas Foto fehlte.
Als er zwölf Klarsichthüllen weitergeblättert hatte, stieß er auf jemanden, den er kannte. Er schloss ungläubig die Augen.
Wenn es überhaupt in diese perverse Sammlung gehörte, dann sollte dieses Gesicht doch bestimmt im dritten Ringbuch sein, dem neuen, unter den Porträts der Menschen, denen Barghest offensichtlich nach Ryans früherem Besuch zur Seite gestanden hatte. Es war ganz ausgeschlossen, dass es zu den Gesichtern jener Leute gehörte, die das Pech gehabt hatten, schon vor Jahren seiner Obhut unterstellt worden zu sein.
Sein Herz klopfte so heftig, wie es nicht einmal geklopft hatte, als Lilys Schwester auf dem Parkplatz seine Seite aufgeschlitzt hatte. Dennoch schlug Ryan die Augen auf und stellte fest, dass er die Frau auf der Fotografie nicht verwechselt hatte.
Ich bin da. Ich passe auf dich auf. Dir kann gar nichts passieren.
Die glatte dunkle Haut.
Nicht den Atem anhalten, Schätzchen.
Die smaragdgrünen Augen.
Du hörst ihn, nicht wahr, Junge?
Zwölf Klarsichthüllen nach Teresa, die seit sechs Jahren tot war, fand er Ismay Clemm, eine der beiden Kardiologie-Schwestern, die Dr. Gupta bei der myokardialen Biopsie assistiert hatten.
45
Der zunehmende Wind ächzte und schnaufte in den Dachtraufen, als seien Worte in seiner Kehle gefangen, und wie aus lauter Frust peitschte er die Äste der Teebäume vor dem Fenster des Arbeitszimmers.
Als er vor sechzehn Monaten in diesem Raum gesessen hatte, war Ryan sich sicher gewesen, dass er ganz dicht vor einer Entdeckung stand, die die schauerlichen Einzelheiten der Verschwörung gegen ihn ans Licht bringen würde. Jetzt erfasste ihn wieder dieselbe Überzeugung.
Als er das erste Mal hier gewesen war und Teresas Foto gefunden hatte, hatte er geglaubt, das entscheidende Teilchen des Puzzles vor sich liegen zu haben. Da ihm die Perfektion von Samanthas Gesicht ohnehin schon fast zur Besessenheit geworden war, hatte ihre perfekte Kopie ihn augenblicklich gefesselt. Als er - wenige Stunden, nachdem er aus dem Bett einer Geliebten aufgestanden war, deren Miene im Schlaf dem toten Gesicht bis in alle Einzelheiten glich - das Porträt einer seit sechs Jahren toten Frau gesehen hatte, hatte Ryan das intensive Bewusstsein der ewigen Gegenwart des Todes im Leben wie ein Schlag ins Gesicht getroffen und ihn anfangs in Verwirrung gestürzt, um gleich darauf seine Konzentration auf Teresa als das Zentrum zu lenken, von dem der ganze Irrsinn der vorangegangenen Monate strahlenförmig ausgegangen war.
Teresa Reach konnte das Puzzle jedoch gar nicht vervollständigen. Sie konnte noch nicht einmal etwas dazu beitragen.
Sie war kein Teil des Netzes, das unbekannte andere um Ryan herum zu spinnen schienen.
Obwohl er einer falschen Fährte gefolgt war, konnte er sie nicht wirklich als ein Ablenkungsmanöver bezeichnen, da niemand ihre Fotografie mit der Absicht in das Ringbuch geschummelt hatte, ihn irrezuführen. In seinem Eifer, den Moment zu nutzen und zu handeln, war er zu der voreiligen Schlussfolgerung gelangt, ihr Auftauchen in dieser Sammlung von Gesichtern sei die erhellende Entdeckung,
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