Racheherz - Roman
hätte, denn dann hätte sie jemand versehentlich mit dem Schal erdrosseln müssen.«
Wenn man Wanda June Siedel glauben durfte, war Ismay Clemm einundzwanzig Monate vor der myokardialen Biopsie gestorben, in deren Verlauf Ryan ihr begegnet war.
Er saß da und lauschte dem wütenden gelben Wind, während das Räderwerk seines Verstandes durch den gedankenbehindernden Faktor, der gerade hineingeworfen worden war, zum Stillstand kam.
Wanda June brauchte keinen Ansporn, um weiterzureden: »Ismay hat Alvin auf einer christlichen Internetseite kennengelernt, was ohnehin schon ein Widerspruch in sich ist, denn das Internet ist der Tummelplatz des Teufels. Wenn Ismay nicht ins Internet gegangen wäre, hätte sie Alvin niemals kennengelernt und wäre immer noch weit fort bei ihrer Schwester in Denver, was heißt, dass sie und ich nie Freundinnen geworden wären, aber mir wäre es lieber, ich hätte sie nie kennengelernt, als dass sie vor ihrer Zeit tot ist.«
»Denver«, sagte Ryan.
»Da ist sie geboren und dort hat sie als Mädchen gelebt und auch später während ihrer Ehe mit Reggie. Nach Newport oder, genauer gesagt, nach Costa Mesa ist sie gezogen, als sie siebenundvierzig war, weil Alvin hier eine Stelle hatte, wenn auch nichts Besonderes, und deshalb hat sie im Krankenhaus angefangen.«
»Und ihre Schwester - ist sie noch am Leben?«
»Ismena, die Schwester, die hat Alvin nicht geheiratet, mit E-Mails gibt sie sich nicht ab und mit dem Internet schon gar nicht, und deshalb ist sie immer noch nicht von einer Trittleiter gefallen und hat auch noch keinen Seidenschal verschluckt oder dergleichen, ihr geht es gut, sie ist ganz reizend, eine ganz Liebe, genau wie Ismay.«
Möglicherweise war wieder Vernunft ins Universum eingekehrt.
Wenn es eine Schwester gab, könnte es eine Erklärung geben, die sich mit der Welt der Naturgesetze und der Logik vereinbaren ließ, in der Ryan sich zu Hause fühlte.
»Dann haben Sie also noch Kontakt zu Ismena«, sagte er.
»Ismena Moon, das ist der Mädchenname, Alvin war ein Clemm. Ismena und ich, wir schreiben uns und wir reden auch am Telefon.«
»Sie lebt noch in Denver?«
»Das kann man wohl sagen, sie lebt in eben dem Haus, das Ismay und Reggie gehört hat, sie hat es Ismay abgekauft, als Ismay losgezogen ist und den angeblich christlichen Alvin geheiratet hat, was nicht heißen soll, dass es mir zusteht, den Glauben von jemandem in Zweifel zu ziehen, Trittleiter hin oder her.«
»Wanda June, was hat Ihnen Kyra Whipset über mich erzählt?«
»Sie hat überhaupt nicht mit mir geredet. Sie kannte nur jemanden, der mich kannte und wusste, dass ich mit Ismay befreundet war. Sie haben mir gesagt, Sie seien beeindruckt von ihr gewesen oder so was, und ob ich Sie mal anrufen würde.«
»Wie ich bereits sagte, war Ismay in einer schrecklichen Phase meines Lebens sehr nett zu mir. Ich wollte … mich für diese Güte erkenntlich zeigen. Aber ich wusste nicht, dass sie gestorben ist.«
»Ich würde liebend gern diese Geschichte hören, mein Sohn, von ihrer Güte und was sie für Sie getan hat, schreiben Sie es mir in mein Ismay-Album, das ich zur Erinnerung an sie angelegt habe.«
»Eines Tages werde ich Ihnen die Geschichte erzählen, Wanda June. Das verspreche ich Ihnen. Aber im Moment
hatte ich gehofft, Sie könnten mir sagen, wie ich ihre Schwester Ismena erreichen kann.«
»Ismena vermisst Ismay so fürchterlich, dass es ihr eine Freude wäre, wenn ein höflicher junger Mann wie Sie etwas Gutes über die Verstorbene zu sagen hat. Ich gebe Ihnen ihre Nummer.«
46
Auf der Rückfahrt zum Flughafen saß George Zane am Steuer der Mercedes-Limousine, Cathy Sienna auf dem Beifahrersitz, und Ryan hockte vorgebeugt auf dem Rücksitz und blätterte immer wieder langsam die Fotografien der drei Frauen durch - Teresa, Lily, Ismay -, von denen jede eine Hälfte eines eineiigen Zwillingspaars war und jede eine lebende Schwester hatte.
Samantha hatte behauptet, gute Geschichten besäßen Tiefenstruktur. Struktur erlangten sie auf vielfältige Weise. Da gab es die Struktur von Charakterfehlern und Tugenden, von Absichten, denen abweichende Handlungen gegenüberstanden, von persönlicher Philosophie, die durch die jeweilige Vorgeschichte der Person geformt war. Dann waren da Eigenarten und Gewohnheiten, Gegensätze und Widersprüche, Banalitäten und Dinge, die aus dem Rahmen fielen. Nicht zu vergessen, Standpunkte und Ausdrucksweisen oder die Struktur von lebhaften visuellen
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