Racheherz - Roman
Die Hälfte der Menschen in den Arbeitslagern meines Landes sind Falun-Gong-Anhänger«, fuhr sie fort. »Sie werden geschlagen und gefoltert oder kommen durch Zwangsarbeit zu Tode.«
Nach dem Klang ihrer Stimme zu urteilen war Violet um den La-Z-Boy herumgegangen und stand jetzt hinter ihm. Er hob den Kopf, und obwohl sich sein Blickfeld durch die Gezeiten des Schmerzes abwechselnd aufhellte und verfinsterte, konnte er gut genug sehen, um sich zu bestätigen, dass sie nicht in dem Teil des Zimmers war, der vor ihm lag.
»Schauen Sie nach vorn«, befahl sie ihm. »Drehen Sie sich nicht um.«
Ryan glaubte nicht, dass sie ihm eine Kugel in den Hinterkopf schießen würde. Sie würde ihn erst noch mehr verletzen wollen, und wenn der Zeitpunkt kam, ihm ein Ende zu bereiten, würde sie dafür sorgen, dass er in die Mündung der Pistole sah.
»Lily war eine Falun-Gong-Anhängerin. Eine reizende Träumerin, das arme Mädchen. Sie war meine Zwillingsschwester, aber sie hatte nicht viel Ähnlichkeit mit mir. Mein Geist ist finsterer und mein Herz ist es auch.«
Als wüsste sie, was er gedacht hatte, presste ihm Violet die Mündung der Pistole an den Hinterkopf und zwang ihn dadurch, das Kopfschütteln einzustellen.
»O Gott, tun Sie das nicht. Sie machen einen Fehler.«
Die runde Mündung schien ein drittes Auge in seinen Hinterkopf zu stanzen, denn wenn er das Augenpaar schloss, mit dem er geboren worden war, konnte er in den Lauf bis zur Kugel blicken.
»Lily war Näherin und hat von einem Hungerlohn gelebt. Sie war auf der Suche nach etwas, das ihr Dasein aufhellte und ihm einen Sinn gab. Falun Gong.«
Das Blut auf seinem Gesicht, seinen Händen und dem Sessel verströmte einen schwachen Gestank, den vielleicht nur er riechen konnte, und ihm drohte, schlecht zu werden.
Sie sagte: »Vor zwei Jahren haben sie Lily verhaftet. Ich habe ein Jahr mit dem Versuch verbracht, ihre Freilassung zu bewirken, mit größter Vorsicht und klammheimlich.«
Seine Dunkelheit neigte sich zur Seite wie das Deck eines Schiffs bei Seegang. Er öffnete die Augen und richtete seinen Blick starr auf den Sessel, in dem sie vorher gesessen hatte. Er zwang den Raum stillzuhalten, um die Übelkeit abzuwenden.
»Zwangsarbeit, Schläge, Folter, Vergewaltigung - nicht alle Falun-Gong-Häftlinge haben diese Behandlung zu erwarten. Einige werden bei guter Gesundheit erhalten, um als Ersatzteillager für Organe zu dienen.«
Ein Schluchzen löste sich aus Ryans Kehle und er rang um seine Beherrschung, denn er wusste intuitiv, dass Tränen ihm kein Mitgefühl einbringen, sondern nur Todesverachtung für ihn wecken würden. Seine einzige Hoffnung lag in der Standhaftigkeit, in selbst auferlegter Zurückhaltung und einem Appell an die Vernunft.
»Ich habe nie von Falun Gong gehört«, beharrte er. »Niemals.«
»In Schanghai gibt es ein Krankenhaus, das ausschließlich zwei Zwecken dient. Erstens werden dort gewisse … Experimente durchgeführt. Zweitens werden dort Transplantationen vorgenommen, aber die Organe stehen nur für ranghohe Staatsbeamte bei schlechter Gesundheit zur Verfügung. Und für reiche Ausländer, die diese sehr hohen Kosten tragen können.«
Zu seinem Erstaunen trat die Frau auf seiner linken Seite wieder in sein Blickfeld. Sie hatte die Mündung der Pistole so fest gegen seinen Hinterkopf gepresst, dass er sie selbst dann noch fühlte, als sie die Waffe schon wieder fortgenommen hatte.
»Drei Tage vor Ihrer Operation habe ich erfahren, dass Lily aus dem Arbeitslager in dieses Krankenhaus überstellt worden war.«
Sie hielt die Pistole mit beiden Händen und zielte aus eineinhalb Metern Entfernung auf seine Kehle, berücksichtigte aber zweifellos, dass der Lauf bei dem Schuss nach oben ziehen und die Kugel seine Zähne zerschmettern und ihm den Hinterkopf wegpusten würde.
»Die Nieren meiner bezaubernden Lily wurden von zwei Kameraden gebraucht, ihre Leber von einem anderen, ein vierter brauchte die Hornhäute der Augen, und ihr Herz konnte irgendein millionenschwerer amerikanischer Softwareentwickler gebrauchen, einer der hundert begehrtesten Junggesellen.«
Er lernte gerade etwas Neues: Furcht konnte die Gefühle eines Menschen derart dominieren, dass er zu keiner anderen Empfindung mehr fähig war; sie konnte sich seines Intellekts bemächtigen, bis er an nichts anderes mehr denken konnte als an das Sterben; sie konnte sein Gemüt erfassen,
bis ihm keine Hoffnung mehr blieb; und ihre Herrschaft über seinen
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