Racheherz - Roman
sie ihm die schlichte Wahrheit enthüllt. Ryan sah jetzt, dass er diese Wahrheit auf den Kopf gestellt hatte. Er hatte sie umgestülpt, sie verdreht und verzerrt, bis er ein fürchterliches Durcheinander daraus gemacht hatte. Statt sich Fragen zu stellen, hatte er mit Argwohn reagiert. Er hatte finstere Verschwörungen gesehen, wo er Gnade hätte sehen sollen. Er hatte sich Erklärungen zurechtgebogen, die voraussetzten,
dass es finstere Gestalten gab, die ihn vergifteten, andere, die ihm Halluzinogene unters Essen mischten, und Hausangestellte, die ein Auge zudrückten, eine ganze Welt, die sich mysteriöserweise gegen ihn verschworen hatte. Nur einen einzigen Verschwörer hatte es gegeben: Er hatte sich gegen sich selbst verschworen, weil er hatte vermeiden wollen, sich der Realität einer vielschichtigen Welt und einer ebensolchen Ewigkeit stellen zu müssen.
Jetzt blickte er zu Violet auf und sagte: »Die Pfahlwurzel der Gewalt ist der Hass auf die Wahrheit.«
Die lebende Zwillingsschwester der toten Lily schoss Ryan eine Kugel hoch oben in die linke Seite, gleich unter dem Schulterblatt.
Er weilte noch in diesem Raum, aber nicht mehr ganz und gar, sondern teilweise hatte sein Schmerz ihn schon in weite Ferne befördert. Sein Körper war bereits zu schwach, um ihm die Symptome seines Leidens mitzuteilen. Aber diesmal hegte er keinerlei Illusionen, jemand hätte ihm insgeheim Drogen eingeflößt.
»Ismay hat mir … eine letzte Chance gegeben. Die Glocken.«
Er sah Violet aus dem Gefühl heraus in die Augen, er sei es ihr schuldig und sie hätte das Recht zu sehen, wie das Leben in seinen Augen erlosch.
»Glocken?«, sagte sie.
»Monate vor der Transplantation hat Ismay gesagt, wenn ich die Glocken höre … soll ich zu ihr kommen. Ich habe es nicht getan.«
»Ismay. Wer ist das?«
Da ihm Kraft und geistige Klarheit fehlten, um es ihr zu erklären, sagte er nur: »Mein Schutzengel.«
»Ich habe die Glocken geläutet«, sagte Violet.
Das verstand er nicht.
»Aus den alten Zeiten haben sie einige Kirchen stehen lassen. Nur um darin Veranstaltungen abzuhalten, die deren eigentlichen Zweck verspotten würden.«
»Eiserne Glocken.«
»An dem Tag, als Lily gestorben ist, habe ich ihr eine Nachricht zukommen lassen. Darin stand … ich würde im Geiste bei ihr sein. Ich würde die Glocken läuten, um Zeugnis abzulegen.«
Ryan erinnerte sich an das unheilvolle Schallen, Schallen, Schallen. Und an das entsetzliche Gefühl, er sei im Begriff einen schwerwiegenden Fehler zu machen, vor dem die Glocken ihn warnten.
»Ich habe ihr gesagt, ich würde die Glocken läuten, um ihr Gerechtigkeit zu geloben«, fuhr Violet fort. »Ich habe ihr gesagt, wenn sie die Glocken hört, würde sie wissen, dass sie in meinem Herzen für alle Zeiten weiterleben wird.«
Obwohl er sich vor dem Tod fürchtete, glaubte Ryan nicht, dass er das Leben noch allzu lange ertragen würde. Er beteuerte ihr: »Es ist in Ordnung. Es ist gerecht.«
Während sie gesprochen hatte, hatte sie die Pistole gesenkt. Jetzt hob sie sie wieder.
Er sagte: »Halten Sie das Versprechen der Glocken.«
Sie gab einen Schuss auf seine rechte Seite ab, hoch oben, gleich unter dem Schulterblatt.
Der Schuss erschütterte seinen Körper und zerriss ihn, der Gestank des Bluts erschien ihm jetzt wie der Wohlgeruch eines Opfers und er sah überall im Zimmer Schatten, die auf ihn zukamen.
Vor kaum mehr als einer Stunde hatte Cathy Sienna, bevor
sie in ihre Limousine gestiegen war, um nach Los Angeles zurückzukehren, Ryan heftig umarmt und ihm fünf Worte ins Ohr geflüstert, die niemand je zuvor zu ihm gesagt hatte. Jetzt sagte er zum ersten Mal in seinem Leben dieselben Worte zu einem anderen Menschen, mit einer Demut und einer Aufrichtigkeit, für die er dankbar war, als er sie tief in seinem Innern fand: »Ich werde für Sie beten.«
Da er mit einem Fuß bereits außerhalb der Zeit stand, konnte Ryan das Verstreichen der Sekunden nicht mehr genau einschätzen, aber ihm schien es, als betrachte Violet ihn zwischen zwei Schüssen eine volle Minute lang, wenn nicht länger. Er sammelte Kraft, um es ihr noch einmal zu beteuern, als sie sich von ihm abwandte und auf eines der Poster schoss.
Sechs Schuss waren noch im Magazin und sie gab sie auf tote Berühmtheiten ab, auf den Vorsitzenden Mao, auf die Lavalampe, die leuchtend zerbarst.
Ohne einen weiteren Blick auf Ryan ging sie aus dem Zimmer und ließ ihn liegen, wohl wissend, dass er sterben
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