Racheherz - Roman
in seinem Leugnen. Er ahnte, dass er irgendwo in seinem Inneren durchaus wusste, wer da anklopfte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber er wusste noch etwas: Wenn er die Vorhänge zurückziehen und diesem Besucher gegenübertreten würde, dann wäre das sein Ende.
9
Der Mond war untergegangen und der Himmel immer noch dunkel an jenem Freitagmorgen, als Ryan zum Krankenhaus aufbrach. Die Dunstglocke der Stadt verbarg viele Sterne, doch nach Westen hin waren das Meer und die Küste eins - schwarz und unermesslich.
Obwohl die Möglichkeit bestand, dass er am Steuer einen Anfall bekam, riskierte er es, selbst zu fahren. Es war ihm lieber, wenn Lee Ting nicht wusste, dass er sich einer myokardialen Biopsie unterzog.
Er redete sich ein, er wolle nicht, dass Leute, die für ihn arbeiteten oder ihm in anderer Weise nahestanden, sich Sorgen um ihn machten. Aber in Wirklichkeit wollte er einem Feind, falls ein solcher überhaupt existierte, nicht die Genugtuung - und den Vorteil - verschaffen, zu wissen, dass er geschwächt und angreifbar war.
Als er allein durch die Parkgarage des Krankenhauses lief, wo ein verhextes säuerlich gelbes Licht die Hecks der Wagen wie Käferpanzer schillern ließ, hatte er das gespenstische Gefühl, eigentlich zu Hause zu sein und zu schlafen. Als wären dieser Ort und die bevorstehende Untersuchung nur Aspekte eines Traums innerhalb eines Traums.
Vom Aufnahmeschalter für ambulante Patienten wies ihm ein Pfleger den Weg zum kardiologischen Diagnostiklabor.
Kyra Whipset, Oberschwester der kardiologischen Station, war spindeldürr. Sie hätte nicht dünner sein können, wenn
sie nichts außer Sellerie zu sich genommen hätte und täglich einen Halbmarathon gelaufen wäre. Sie besaß so wenig Körperfett, dass sie vermutlich sogar in stark tragfähigem Salzwasser wie ein ausgeworfener Anker gesunken wäre.
Nachdem sie sich hatte bestätigen lassen, dass Ryan nach Mitternacht nichts mehr gegessen hatte, setzte ihm Schwester Whipset ein Beruhigungsmittel und Wasser in einem kleinen Pappbecher vor.
»Davon schlafen Sie nicht ein«, sagte sie. »Es wird Sie nur entspannen.«
Eine zweite Schwester, Ismay Clemm - eine ältere und erfreulich mollige Schwarze - hatte grüne Augen, die wie Smaragde mit einem kunstvollen Facettenschliff funkelten. Diese Augen wären in jedem Gesicht aufgefallen, doch bei ihr wirkten sie durch den Kontrast zu ihrer glatten dunklen Haut geradezu atemberaubend.
Während sich Schwester Whipset an einen Schreibtisch in einer Ecke setzte, um einen Eintrag in Ryans Akte vorzunehmen, sah Ismay zu, wie er das Beruhigungsmittel einnahm. »Alles in Ordnung mit dir, Junge?«
»Nicht wirklich«, sagte er und zerdrückte den leeren Pappbecher in seiner Faust.
»Das ist keine große Sache«, versicherte sie ihm, als er den Becher in einen Abfalleimer warf. »Ich bin da. Ich passe auf dich auf. Dir kann gar nichts passieren.«
Im Gegensatz zu Schwester Whipsets asketischer Strenge empfand Ryan Ismays Fülle, zu der auch eine wohlklingende Stimme gehörte, die Fürsorglichkeit so mühelos übermittelte wie eine Melodie, als tröstlich.
»Immerhin nehmt ihr drei Stücke aus meinem Herzen«, sagte er.
»Winzige Stücke, Schätzchen. Ich vermute, du hast schon viel größere Stücke aus den zarten Herzen einiger goldiger Mädchen gebrochen. Und die sind doch auch noch am Leben, oder?«
In einem angrenzenden Raum zog er sich bis auf die Unterhose aus, stieg in ein Paar Einwegschlappen und hüllte sich in einen dünnen, blassgrünen, kragenlosen Kittel mit kurzen Ärmeln.
Als er wieder ins Diagnostiklabor kam, war Dr. Gupta eingetroffen und der Radiologe ebenfalls.
Der Untersuchungstisch war bequemer, als Ryan erwartet hatte. Samar Gupta erklärte, Bequemlichkeit sei notwendig, weil ein Patient während dieser Prozedur mindestens eine Stunde lang sehr still auf dem Rücken liegen müsse, in einigen Fällen vielleicht sogar zwei Stunden oder länger.
Freischwebend über dem Tisch würde ein Fluoroskop unverzüglich bewegliche Röntgenbilder auf einen fluoreszierenden Bildschirm projizieren.
Während sich der Kardiologe, von Schwester Whipset assistiert, auf die Prozedur vorbereitete, kontrollierte Ismay Clemm Ryans Puls. »Du machst das prima, Junge.«
Das Sedativum begann zu wirken und er fühlte sich ruhiger, wenngleich auch hellwach.
Kyra Whipset schrubbte Ryans Hals und bestrich einen Teil davon mit Jod.
Nachdem er eine Oberflächenanästhesie vorgenommen
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