Racheherz - Roman
Stirn gelegt und manchmal beobachtete sie ihn einfach nur und auf ihr dunkles Gesicht fielen so dunkle Schatten, dass ihre grünen Augen in dem eigentümlichen Licht körperlos wirkten.
Ein paarmal sprach sie mit ihm und bei der ersten Gelegenheit murmelte sie: »Du hörst ihn, nicht wahr, Junge?«
Ryans Kraft reichte nicht, um zu fragen, von wem sie sprach.
Die Krankenschwester beantwortete ihre Frage selbst: »Ja, du hörst ihn.«
Später, zwischen zwei Träumen, sagte sie noch: »Du darfst nicht auf ihn hören, Junge.«
Und noch später: »Wenn du die eisernen Glocken hörst, kommst du zu mir.«
Als er über eine Stunde, nachdem er sich hingelegt hatte, erwachte, war Ryan allein.
Das spärliche Licht, die zahlreichen Schatten und der kärglich ausgestattete Vorbereitungsraum erschienen ihm weniger real als der Palast mit den Fenstern voller roter Lichter, der schwarze See und die anderen Orte in seinen Träumen.
Um sich zu bestätigen, dass er wach war und dass die Erinnerung an die Biopsie real war, hob er eine Hand zu dem kleinen Verband an seinem Hals, der die Wunde in der Drosselader und die Naht verbarg.
Er stand auf, legte den Kittel ab und zog seine Kleider wieder an.
Als Ryan das angrenzende Diagnostiklabor betrat, war Ismay Clemm nirgends zu sehen. Dr. Gupta und der Radiologe waren ebenfalls fort.
Schwester Whipset fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei.
Er fühlte sich unwirklich, schwerelos und schwebend, als sei er ein Geist, eine Erscheinung, die sie irrtümlich für Fleisch und Blut hielt.
Natürlich bezog sich ihre Frage nicht darauf, ob er sich psychisch gefestigt fühle, sondern nur darauf, ob die Wirkung des Sedativums abgeklungen war. Er bejahte.
Sie teilte ihm mit, die Auswertung der Gewebeproben würde schleunigst vorgenommen. Im Interesse größerer Genauigkeit und um weitere präzise Informationen zusammenzutragen, hätte Dr. Gupta jedoch eine enorm detaillierte Analyse verlangt. Daher rechne er nicht damit, den Bericht vor dem kommenden Dienstag vorliegen zu haben.
Ursprünglich hatte Ryan vorgehabt, sich zu erkundigen, wo er Ismay Clemm finden könne. Er wollte sie fragen, was sie mit den seltsamen Dingen gemeint hatte, die sie während der kurzen Phasen, in denen er halbwach gewesen war, zu ihm gesagt hatte.
Doch jetzt, in der sterilen Helligkeit des Diagnostiklabors, war er sich nicht mehr sicher, ob sie tatsächlich mit ihm gesprochen hatte. Sie hätte ebenso gut einfach nur durch seine Träume gegeistert sein können.
Er holte seinen Mercedes aus der Parkgarage und fuhr nach Hause.
Gegen den klaren Himmel zeichneten sich nicht nur mehr Vögel als sonst ab, sondern sie bildeten im Flug auch seltsame Formationen. Kalligraphie aus Krähen, die vielleicht eine Bedeutung offenbart hätte, wenn er bloß die Sprache beherrscht hätte, in der die Botschaft abgefasst war.
Als er an einer roten Ampel einen Blick auf den silbernen Lexus in der angrenzenden Spur warf, bemerkte er, dass der Fahrer ihn anstarrte: ein Mann, vielleicht Mitte vierzig, mit einem harten, ausdruckslosen Gesicht. Ihre Blicke trafen sich und die Intensität des Fremden brachte Ryan dazu, seinen als Erster abzuwenden.
Zwei Kreuzungen weiter sprach an einer weiteren roten Ampel ein junger Mann am Steuer eines individuell getunten Ford Pick-up in ein Handy mit Freisprechfunktion. Da es in der Ohrmuschel des Typen saß, rief das Telefon in Ryan die Erinnerung an einen alten Science-Fiction-Film wach: ein außerirdischer Parasit, der seinen menschlichen Wirt steuerte.
Der Fahrer des Pick-up warf einen Blick auf Ryan, wandte die Augen sofort wieder ab, schaute ihn aber im nächsten Moment noch einmal verstohlen an. Gleichzeitig bewegten sich seine Lippen schneller, als sei Ryan das Thema seines Telefongesprächs.
Meilen später, als Ryan vom Pacific Coast Highway auf die Newport Coast Road abbog, warf er wiederholt Blicke in den Rückspiegel und hielt nach dem silbernen Lexus und dem umgebauten Ford Pick-up Ausschau.
Zu Hause begegnete Ryan weder auf der Treppe noch im Flur oder in einem der Räume, die er durchquerte, Lee oder
Kay Ting und ebenso wenig Lees Assistent Donnie oder Kays Assistentin Renata.
Er hörte Schritte, die sich auf einem Kalksteinboden entfernten, eine Tür, die sich in einem anderen Zimmer schloss. Eine ferne Stimme und eine einsilbige Antwort waren beide unverständlich.
In der Küche bereitete er sich rasch ein frühes Mittagessen zu. Er mied frische Lebensmittel und Behälter,
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