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Racheherz - Roman

Racheherz - Roman

Titel: Racheherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Daumen und die beiden Finger auf seinem Handgelenk, die seinen Puls suchten, waren kalt, obwohl sie sich vor einem Moment noch nicht kalt angefühlt hatten. Sie waren eisig und sie drückten fester zu als vorher, sie zwickten ihn und der Umriss eines Kopfes stieß durch die gelbe Aurora zu ihm hinab, ein Gesicht, aber ein Gesicht, das ausschließlich aus einem weit aufgesperrten und hungrigen Rachen bestand …
    Ryan packte mit einem erstickten Schrei das Bettgitter und setzte sich in einem Krankenhausbett in einem finsteren Raum auf, der stark nach einer adstringierenden Reinigungslotion mit Kiefernnote roch.

    Das Bettzeug roch nach Bleichmittel und Weichspüler. Es knisterte und fühlte sich so steif an, als sei es gestärkt worden.
    In einer Ecke des Zimmers, in die der Schein einer Lampe fiel, legte ein Mann, der eine weiße Hose und ein weißes Hemd trug, das Buch zur Seite, in dem er gelesen hatte, und stand aus einem Sessel auf.
    Der Lampenständer und der Lampenschirm funkelten, Edelstahl oder poliertes Nickel. Die Kunststoffpolster des Sessels glitzerten wie das Fleisch einer Avocado, die man mit Olivenöl beträufelt hat.
    Alles in dem Zimmer schien mit einer Lackschicht überzogen oder nass zu sein. Die weißen Bodenfliesen, die blaue Platte des Nachttischs und die Wandfarbe wiesen einen Perlmuttschimmer auf.
    Sogar die Schatten hatten einen harten Glanz, als seien sie aus Rauchglas, und Ryan begriff, dass dieser allgegenwärtige Schimmer eine Nebenwirkung des Sedativums sein musste, das man ihm verabreicht hatte.
    Er hatte eigentlich das Gefühl, hellwach zu sein und bei scharfem Verstand. Seine Wahrnehmung erschien ihm sogar klarer und eindringlicher als jemals zuvor in seinem Leben, doch der verhexte Glanzüberzug auf allem führte ihm vor Augen, dass er wohl narkotisiert war. Der Schlaf würde ihn wieder übermannen, sowie er seinen Kopf auf das Kissen sinken ließ.
    Er fühlte sich hilflos und in Gefahr.
    Gegen die Fenster presste sich die düstere und unwirtliche chromgelbe Dunkelheit einer nächtlichen Großstadt.
    »Ein böser Traum?«, fragte der Krankenpfleger.
    Wally. Wally Dunnaman. Ein Mitglied von Dr. Hobbs
siebenköpfigem Team. Er hatte Ryan die Brust und den Unterleib rasiert.
    »Meine Kehle ist ganz trocken«, sagte Ryan.
    »Der Doktor will nicht, dass Sie vor der Operation am Morgen viel trinken. Aber ich kann Ihnen ein bisschen Eis zum Lutschen geben. Sie können es einfach in Ihrem Mund schmelzen lassen.«
    »In Ordnung.«
    Wally zog den Stöpsel aus einer Isolierflasche auf dem Nachttisch. Mit einem langstieligen Löffel, einem regelrecht funkelnden Löffel, fischte er ein Stück Eis heraus, schillerndes Eis, und schob es Ryan in den Mund.
    Nachdem er seinem Patienten drei Stücke Eis gestattet hatte, verschloss er die Flasche wieder mit dem Stöpsel und legte den Löffel hin.
    Mit Blick auf seine Armbanduhr fühlte Wally Dunnaman Ryans Puls.
    In dem gelben Traum war weder das liebevolle noch das hasserfüllte Wesen dieser Mann gewesen. Nichts in diesem Zimmer, in diesem Krankenhaus, hatte den Traum ausgelöst.
    Wally ließ Ryans Handgelenk los und sagte: »Sie müssen schlafen.«
    Auf eine Weise, die Ryan nicht erklären konnte, war die Realität des Traums gleichwertig mit der Realität dieses Zimmers; keine von beiden schien der anderen überlegen. Er wusste instinktiv, dass es so war, obwohl er es nicht verstand.
    »Schlafen Sie jetzt«, drängte ihn Wally.
    Wenn der Schlaf ein kleiner Tod war, wie ein Dichter einmal geschrieben hatte, dann würde dieser Schlaf mehr vom Tod an sich haben als jeder andere Schlaf, dem sich Ryan jemals hingegeben hatte. Er musste sich also dagegen wehren.
    Trotzdem ließ er den Kopf wieder auf das Kissen sinken und konnte ihn nicht mehr heben.
    Hilflos und in Gefahr.
    Er hatte einen Fehler gemacht. Er wusste nicht, welcher Art dieser Fehler war, aber er fühlte, wie die Last dieses Fehlers ihn niederdrückte.
    Während er sich anstrengte, die Augen offen zu halten, wurde der Schimmer, der alles überzog, zu einem Glanz, der Glanz zu einem grellen Leuchten, das Leuchten zu blendender Helligkeit.

    Glocken. Vorhergesagte Glocken. Und jetzt die Glocken.
    Schallend, schallend, schallend, grollend, grollend, grollend. Ein feierliches Glockensolo riss Ryan aus dem Schlaf.
    Erst glaubte er, es seien Traumglocken, doch der Lärm hielt beharrlich an, während er darum rang, die Kraft zu finden, sich mit beiden Händen am Bettgitter in eine sitzende Position

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