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Racheherz - Roman

Racheherz - Roman

Titel: Racheherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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hochzuziehen.
    Die Dunkelheit war noch im Besitz der Welt jenseits des Fensters und der Krankenpfleger stand auf dieser Seite der Glasscheibe und schaute hinaus. Er blickte in die Wellen des aufsteigenden Klangs hinunter.
    Riesige, schwere Glocken erschütterten die Nacht, als hätten sie vor, sie zum Einsturz zu bringen, und in ihrem Klang schwang eine enorm melancholische Drohung mit.
    Ryan sprach mehr als einmal, bevor Wally Dunnaman ihn hörte, einen Blick auf das Bett warf und seine Stimme erhob, um zu sagen: »Auf der anderen Straßenseite steht eine Kirche.«

    Als er in dieses Zimmer geführt worden war, hatte Ryan das Gotteshaus schräg gegenüber gesehen. Der Glockenturm ragte über dieses Fenster im vierten Stock hinaus.
    »Sie sollten um diese Uhrzeit nicht läuten«, sagte Wally. »Und schon gar nicht so lange. Dort brennt auch nirgends Licht.«
    Die eigentümlich schillernden Schatten schienen bei jedem Läuten zu beben. Ein solches Ächzen und Stöhnen, ein hartes beharrliches Grollen.
    Die lauten metallischen Klänge, dieses Schmettern, das die Fenster klirren, die Wände surren und ihn bis in die Knochen erschauern ließ, jagte Ryan Angst ein. Es hallte zähflüssig durch sein Blut und brachte sein Herz dazu, hämmernd zu pochen. Dieses geschwollene Herz war noch sein eigenes, so schwach und so krank, und er fürchtete, dieser donnernde Schall könnte es bis zur Zerstörung auf die Probe stellen.
    Sein Gedanke beim Erwachen fiel ihm wieder ein: Glocken. Vorhergesagte Glocken. Und jetzt die Glocken.
    Wann vorhergesagt, durch wen, und was hatten sie zu bedeuten?
    Wäre das Beruhigungsmittel nicht gewesen, das sein Blut verpestete und seinen Verstand verwirrte, dann hätte er auf mindestens zwei dieser Fragen die Antwort gewusst, glaubte er.
    Aber das Medikament überzog nicht nur alles in dem Zimmer mit Lack, es polierte nicht nur jeden Schatten blank, sondern es gab ihm auch Synästhesien ein, und daher hörte er das Geräusch nicht nur, sondern roch es auch. Der Gestank von Eisenhydroxid, von Eisenoxyd - man könnte auch einfach von Rost sprechen - schwappte in bitteren Wogen über das Bett.

    Endloses Geläut - von Glocken und Glocken und noch mehr Glocken - hämmerte jedes Zeitgefühl aus Ryan heraus, und er fürchtete, es würde bald auch seine Zurechnungsfähigkeit aus ihm heraushämmern.
    Schließlich sagte Wally Dunnaman mit erhobener Stimme, um das Schmettern zu übertönen: »Dort unten kommt ein Polizeiwagen. Ah, und gleich noch einer!«
    Unter der Last der dröhnenden Glocken fiel Ryan zurück und sein Kopf ruhte wieder auf dem Kissen.
    Er war hilflos und in Gefahr, Gefahr, Gefahr.
    Mit einer gewissen Hoffnungslosigkeit, die ihm nicht wirklich weiterhalf, sah er planlos die Bruchstücke seiner Gedanken durch und versuchte, sie wie Keramikscherben zusammenzusetzen. Etwas, das absolut nicht sein durfte, war passiert, und noch blieb ihm Zeit, dieses Übel zu beheben, wenn er bloß verstehen könnte, was es war, das dringend in Ordnung gebracht werden musste.
    Die Glocken läuteten jetzt weniger aggressiv, ihre rasende Wut war zu Zorn abgeflaut, Zorn zu Verdrossenheit und Verdrossenheit zu einem letzten langgezogenen Stöhnen, das klang wie eine große, schwere Tür, die sich an verrosteten Angeln ächzend schloss.
    Als die Glocken verstummt waren und das Sedativum ihn langsam wieder in seinen samtenen Bann zog, fühlte Ryan Tränen auf seinen Wangen und leckte sich das Salz aus einem Mundwinkel. Er hatte nicht die Kraft, seine Hände zu heben und sein Gesicht trocken zu wischen. Während er sich stumm in den Schlaf weinte, besaß er auch nicht mehr die Geistesgegenwart, sich seiner Tränen zu schämen oder sich über sie zu wundern.

    Als man ihn kurz nach dem Morgengrauen auf einer fahrbaren Krankentrage in die Chirurgie rollte, war Ryan wachsam und ängstlich, hatte sich aber mit dem Kurs, den er eingeschlagen hatte, abgefunden.
    Der Operationssaal, weiße Porzellankacheln und Edelstahl, war in gleißendes Licht getaucht.
    Aus dem Desinfektionsraum kam Dr. Hobb mit seinem Team; nur Wally Dunnaman fehlte, da er beim Aufschneiden offenbar keine Aufgabe zu übernehmen hatte. Außer Dougal Hobb waren es ein Anästhesist, drei kardiologische Schwestern, ein Assistenzchirurg und zwei weitere, an deren Spezialgebiete und Funktionen Ryan sich nicht erinnern konnte.
    Er hatte sie in dem Medijet kennengelernt und sie alle gemocht, soweit es möglich war, jemanden zu mögen, der einen aufsägen und so

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